12. Juni, 11. Sonntag im Jahreskreis
Mt 9,36 - 10,8


Liebe Gemeinde!

Das Evangelium vom heutigen Tag beginnt mit den Worten: „Als Jesus die vielen Menschen sah...“ (V.36).
Was wird er gesehen haben? Zunächst vermutlich nichts anderes als das, was seine Jünger auch gesehen haben. Er wird das Elend der armseligen Dörfer gesehen haben und die politische Unterdrückung, die Unwissenheit der Menschen, die hungernden Kinder und die ausgebeuteten Bauern. Vielleicht hat er auch das Mühen der Frommen und der Stillen gesehen und deren Ohnmacht und Resignation angesichts der Verhältnisse, die sie nicht ändern konnten.
Er hat wohl etwas ganz ähnliches gesehen, wie wir es heute auch sehen, wenn wir auf die Menschen schauen: Die Frage und die Angst: Wie wird es weiter gehen?
Angst vor der Zukunft, Arbeitslosigkeit, Partnerschaftsprobleme...
Eigentlich hat er nichts anderes gesehen, als seine ganz normale Welt, wie sie sich zu seiner Zeit halt dargestellt hat.
Er hat das gesehen, und vor allem: Er hat es so gesehen, dass der Evangelist sagt: „...als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen.“
Jesus schaut hin. Er sieht nicht nur „mal so“, sondern er läßt sich ein und ist berührt. Er hat Mitleid.
Das Evangelium findet an dieser Stelle eine seltsame Fortsetzung. Jesus sagt: „Die Ernte ist groß!“
Das klingt fast wie ein Jubelruf eines Bauern, der angesichts seiner Felder sieht, dass die Frucht reif ist und die Zeit für die Ernte gekommen ist.  
Für mich ist damit die Aussage verbunden, dass man das Gleiche sehen und es doch ganz verschieden beurteilen kann, dass man ganz verschiedene Schlußfolgerungen aus dem Gleichen ziehen kann. 
Eigentlich wäre es ja naheliegend zu sagen: „Ich resigniere. Angesichts dessen, was ich sehe, angesichts der Not und der überwältigenden Arbeit sehe ich keine Chance.“
Diese Reaktion ist heute (und vielleicht immer schon) weit verbreitet. Vielleicht ist sie die größere Gefahr, größer noch, als die realen Bedrohungen, denen man sich immer wieder stellen muß. 
Jesus reagiert anders. Er klagt nicht die Verhältnisse an oder die Unzulänglichkeiten der Menschen. Er klagt auch nicht Gott an, dass die Welt so ist, wie die Menschen sie gemacht haben.
Jesus sieht die Welt und ihre Wirklichkeit nie nur in einer oberflächlichen Weise. Für ihn ist sie transparent, durchsichtig - auf die Wirklichkeit Gottes hin. Alles was er sieht, sieht er immer auf Gott hin.
Die Not und die Bedürftigkeit der Menschen ist für ihn eine Herausforderung. So sagt er zu seinen Jüngern angesichts dessen, was er sieht: „Geht - und verkündet...!“ (10,7).
Man könnte eigentlich denken, es wäre notwendiger zu sagen: „Geht - und tut...!“ Aber Jesus scheint die Not des geistlichen Hungers vordringlicher zu sehen und es für wichtiger zu halten, auf ihn einzugehen.
Mir scheint das bedeutend zu sein - auch für uns heute. 
„Geht - und verkündet...Das Himmelreich ist nahe!“ Das Himmelreich? Das heißt: Gott selber ist nahe. Der Evangelist Matthäus hat als gläubiger Jude eine große Scheu, Gott und seinen Namen auszusprechen. Das Himmelreich ist eine Umschreibung für die Wirklichkeit Gottes selber. „Geht und sagt den Menschen: Gott ist nahe!“ Das ist die Botschaft, die er für wichtig hält. Diese Botschaft soll in die Not der Menschen hinein gesprochen werden. Diese Botschaft braucht ihre Adressaten. Die Not, die Mangelerfahrung, die Bedürftigkeit, die er sieht, schreit nach einer Antwort. Und natürlich besteht diese Antwort auch darin, dass Menschen ihre Kraft einsetzen, um Verbesserungen in der Welt herbeizuführen. Für Jesus haben die ihr Fundament in dem Wissen um die Gegenwart Gottes.
Darin besteht die Aufgabe und die Sendung der Jünger: Gott in diese Welt hinein zu sagen.
Das ist die Erntearbeit, zu der er sie ruft: Gott in diese Welt sagen. Darauf wartet die Welt. Das brauchen die Menschen.
„Die Ernte ist groß. Es gibt nur wenig Arbeiter. Bittet den Herrn der Ernte, Arbeiter in seinen Weinberg zu senden!“
Liebe Gemeinde! So bitten darf nur derjenige, der sich selbst als Arbeiter im Weinberg Gottes versteht. Das ist lange nicht zuerst die Bitte um Priesternachwuchs. Eine solche Vorstellung lag Jesus selber sicherlich ziemlich fern. Es ist die Bitte, dass die glaubenden Menschen, dass wir uns als Erntehelfer Gottes in dieser Welt verstehen. Es ist die Bitte, dass wir erkennen: Unser Auftrag besteht darin, in unser eigenes Leben hinein uns immer wieder Gottes Gegenwart zuzusagen und zusagen zu lassen. Und durch unser Leben seine Gegenwart in diese Welt hinein zu tragen.
„Geht - und verkündet: Gott ist nahe!“

Amen.

Harald Fischer