05. 07. 2003, 14. Sonntag im Jahreskreis
Goldene Hochzeit von Theresia und Hans Krahl
Mk 6,1-6


Liebe Schwestern und Brüder!
Liebe Gemeinde!

"Den kenne ich doch ganz genau!"
 
Mit einem solchen Ausruf wollen wir in der Regel sichtbar machen: Von dem Anderen ist nicht viel zu erwarten. Ich kann ihn einordnen. Nichts besonderes!
 
Oft machen wir damit jemanden eher klein und unbedeutend.
 
So etwas will uns Markus wohl in dem Evangelium des heutigen Sonntags über die Menschen in Nazareth sagen – wie sie Jesus eingeordnet haben:
 
Seine Familie – einfache Leute von uns.
 
Er selber – einer aus unserer Mitte. Was hat er uns schon besonderes zu sagen.
 
Der soll sich nur nicht erheben und meinen, etwas besseres zu sein.
 
Aus der Haltung der Eifersucht, der Konkurrenz wird viel zerstört. Eine Alltagserfahrung. So wird Beziehung verhindert – auf beiden Seiten. Eine wirkliche Begegnung kann es so nicht geben. Auch Jesus spürt das und kann sich dem nicht entziehen.
 
Aber hier in der Geschichte, die wir eben gehört haben, geht es wohl nicht nur um einen zwischenmenschlichen Konflikt, wie man ihn immer wieder erleben kann. Hier geht es auch um eine Inkarnationserzählung: Das Gottes Wirklichkeit sich so konkret in einem Menschen zeigen soll, im bekannten Alltag, ist eine Provokation für die Menschen in Nazareth. Das Gottes Wirklichkeit sich so "ungöttlich", mit so wenig Aufwand, so alltäglich zeigt, das ist das Skandalon.
 
Liebe Theresia, lieber Hans!
 
Ihr feiert heute eure Goldene Hochzeit. 50 Jahre miteinander verbunden zu sein, in "guten und in schweren Zeiten" wie ihr es euch damals versprochen habt, dass ist ein Anlaß großer, sehr großer Freude.
 
Zunächst sei euch unser aller herzlichster Glückwunsch ausgesprochen. Wir freuen uns mit euch, dass ihr diesen Tag in so guter körperlicher und geistiger Verfassung erleben könnt.
 
Wir freuen uns mit euch, dass ihr mit eurer Familie, den Kindern, Enkelkindern – auf die ihr mit Recht stolz seid und über die ihr euch freut - , mit euren Angehörigen und Freunden diesen Tag feiern könnt. Euch ist es wichtig, eure Freude auch hier in der Kirche, im Gottesdienst sichtbar zu machen. Damit bringt ihr zum Ausdruck, dass sich euer Dank auch auf Gott hin richtet, auf dessen Gegenwart und Liebe ihr vertraut. Euer langer, gemeinsamer Weg ist von Licht und Schatten begleitet. Wie könnte es auch anders sein. So sieht das Leben der Menschen aus. Und in all dem wißt ihr euch mit Gott verbunden und von Ihm getragen.
 
Wie kommt es, dass man bei euch – trotz dieser langen Zeit - immer noch das
 
Gefühl hat, dass eure Ehe lebendig und eure Liebe frisch ist? So oft kann man es ja durchaus auch anders erleben: das Menschen sich aneinander gewöhnt haben, die Faszination des Neuen nach einer gewissen Zeit nachläßt und die Begeisterung des Anfangs in Langeweile und Öde umschlägt. Nach so langer Zeit kennt man sich. Schließlich kennt man sich so gut, dass man meint, sich nichts mehr zu sagen zu haben.
 
Anne Philipe, eine französische Autorin, hat einen Roman über das letzte Lebensjahr ihres Mannes geschrieben, der an Krebs gestorben war. Darin schreibt sie: "Wir kennen einander so gut, dass jeder den Satz beenden kann, den der andere angefangen hat. Doch hat die kleinste seiner Gesten mehr Geheimnis in sich als das Lächeln der Mona Lisa".
 
Die kleinste seiner Gesten hat mehr Geheimnis in sich, als das Lächeln der Mona Lisa.
 
Diese Liebe, von der die Autorin schreibt, lebt, weil sie weiß, dass zu einer Beziehung das "Geheimnis" gehört. Wenn das "Geheimnis" in einer Beziehung fehlt, ist es aus mit der Liebe. Der Andere wird dann eindimensional, langweilig. Man kennt sich, man weiß, was der Andere denkt, handelt, redet – aber es gibt keine Spannung, keine Neugier mehr. Es wird alles platt und leer.
 
Ich will jetzt nicht sagen, dass du die Mona Lisa wärest, liebe Theresia – aber ich glaube schon, dass dein Hans dich auch für sie nicht hergeben würde.
 
Aber was mich an diesem Wort vom "Geheimnis im Anderen" anspricht ist, dass sich von diesem "Geheimnis" her die Sicht auf den anderen verändert.
 
Wer viele Jahre miteinander lebt, kann den Partner oder die Partnerin am Husten und am Schritt erkennen, versteht ein leichtes Stirnrunzeln und einen Augen – Blick und kann vielleicht den angefangenen Satz des Anderen beenden. Das kann ein wunderbares Zeichen der Vertrautheit sein, kann aber auch dazu führen, dass man den anderen nicht mehr wirklich sieht, weil man meint, schon alles zu kennen.
 
Hier möchte ich noch einmal den Bogen zum Evangelium schlagen: Vielleicht ist das den Menschen in Nazareth passiert und vielleicht geschieht uns das auch manchmal: dass wir meinen, schon alles verstanden zu haben – nicht nur von den Menschen unserer Umgebung, sondern auch vom Glauben selber. Von Jesus, von der Botschaft des Evangeliums. So viel haben wir schon gehört. Es ist uns vertraut, vielleicht zu vertraut. Und dann sind wir nicht mehr offen für das Neue, Unerhörte, dass sich trotz aller Vertrautheit uns zeigen will.
 
Und vielleicht sind wir auch manchmal in der Gefahr, in der Begegnung mit vertrauten Menschen aus unserem Alltag deren Geheimnis zu übersehen, an der Oberfläche zu bleiben und damit deren Lebensbotschaft, vielleicht sogar deren Gottesbotschaft, die sie – manchmal vielleicht auch ohne dass sie es selber wissen - zu verkünden haben, zu übersehen.
 
Ich glaube, der andere ist mehr als das, was man von ihm fassen kann. Beziehung wird erst dann wirklich lebendig, wenn ich von diesem "mehr", eben von dem Geheimnis des anderen etwas spüren kann. Dann begegne ich darin der Botschaft Gottes, ja vielleicht Gott selber.
 
Ein Satz des Philosophen Emanuel Levinas trifft das genau: "Einem Menschen begegnen heißt, von einem Geheimnis wachgehalten zu werden."
 
In Jesus haben viele Menschen dieses "Geheimnis" als "Geheimnis Gottes" gespürt. Das Evangelium kann uns erneut darauf aufmerksam machen, offen zu bleiben für dieses Geheimnis, das uns in Jesus begegnet – aber durchaus auch in den vertrauten Menschen, mit denen wir leben.
 
Schön, dass ihr, liebe Theresia, lieber Hans, diese Botschaft lebt. Wir wünschen euch sehr, dass ihr euer Miteinander noch lange genießen könnt.

Amen.

Harald Fischer