22. 06. 2003, 12. Sonntag im Jahreskreis
Mk 4,35 – 41


Liebe Gemeinde!

Kennen Sie das? Sie leben Ihren Alltag, ruhig und gelassen. Alles geht seinen gewohnten Gang. Sie sind es zufrieden und haben sich an den Alltagstrott gewöhnt.
 
Und plötzlich gibt es wie aus heiterem Himmel ein Ereignis, das Ihr Leben aufpeitscht, es aus den gewohnten Geleisen wirft. Es entsteht auf einmal ein Chaos, das Durcheinander, Leid und Angst bringt. Kennen Sie das? So ein übergangsloser Schritt von der Ruhe zum haltlosen Chaos?
 
So ein Lebenssturm kann durch vieles ausgelöst sein: Ein Brief, eine Wahrheit, die mir von anderen mitgeteilt wird und die die Sicherheit meines Lebens wegreißt wie einen Teppich unter den Füssen. Es kann die plötzliche Gewissheit sein, dass in meinem Leben etwas falsch gelaufen ist, dass ich vielleicht noch gar nicht wirklich gelebt habe. Oder es kann eine Krankheit sein oder eine Leidenschaft, die nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen ist, oder eine plötzliche Depression, oder... So ein Sturm kann durch vieles ausgelöst sein.
 
Diese Erfahrung wird im Evangelium beschrieben, die Erfahrung eines Sturmes, der plötzlich alle Sicherheit auflöst und ungeheuer bedrohend wirkt . Es geht nicht so sehr um ein einmaliges Naturereignis, vor langer Zeit geschehen . Was hätten wir auch davon, dass so etwas vor etwa 2000 Jahren passiert wäre und uns heute davon erzählt wird. Wir könnten bestenfalls sagen: Schön, dass die Jünger das damals erlebt haben und auf wunderbare Weise gerettet worden sind. Schade, dass das nicht meine Erfahrung ist. Nein, im Evangelium geht es immer um unser Leben, um unser Heute, um unser Er - leben. Es lädt uns ein, anhand der Glaubenserfahrungen der Menschen, von denen im Evangelium erzählt wird, unser eigenes Leben zu deuten und im Glauben zu verstehen.
 
Was da geschildert wird, ist den Jüngern und den Menschen aller Zeiten immer wieder passiert.
 
Ja, mitten in der scheinbaren Ruhe des Alltags kann der Sturm losbrechen, der die schrecklichsten Ängste in uns aufwirbelt, denen wir hilflos ausgeliefert scheinen. Mitten in unserem Alltag kann sich alles verändern und Tod und Vernichtung drohen für alles, was uns lieb und kostbar ist. Das Meer, der Sturm auf dem Meer, ist schon immer ein Symbol für das Unbewußte im Menschen, für die verschlingenden Chaosmächte, für die Ängste.
 
Wenn wir diese Angst in uns spüren - was ist dann zu tun? Auf diese Frage will uns das Evangelium, will uns Jesus eine Antwort geben.
 
Das Evangelium sagt uns: Zunächst ist erst einmal nichts zu tun. Es gilt erst einmal, auszuhalten, was ist. Der schlafende Jesus macht sichtbar: Inmitten der aufgepeitschten See, inmitten all der Unruhe, der zerstörerischen Gefahr behält er die Ruhe und das Vertrauen. Es geht darum, das Schiff unseres Lebens dort zu verankern, wo unterhalb der aufgewühlten See der Sturm nicht mehr hinreicht.
 
So stark der Sturm auch sein mag: Vielleicht peitscht er die Wellen des Sees in einer Tiefe von 3, 4 Metern auf. Angesichts der mehr als 200 Meter Tiefe des Sees Genesareths ist das fast nichts. Schon kurz unter der Oberfläche des Sees bleibt alles ruhig und sogar unberührt.
 
So ist es auch in unserem Leben: Wir können manchen Stürmen unseres Lebens nicht ausweichen. Sie erreichen uns, wühlen uns auf, treiben uns um. Und dennoch gilt es - im Blick auf Jesus - ein Vertrauen zu lernen, das uns all das im letzten nicht gefährden kann. Das bedeutet nicht, dass wir unberührt bleiben und Stoiker werden sollten oder könnten, denen letztlich alles egal ist. Aber es heißt, uns mit unserem Leben und mit all dem, was uns darin begegnet, uns mit unserem Glauben, mit unserem Vertrauen in einer Tiefe zu verankern, wo uns die Stürme nicht erreichen können. Oft genug zeigt sich dann aus einer solchen Haltung durchaus auch überraschend Rettung und Ausweg, wo vorher nichts mehr zu tun schien. Zunächst aber gilt es: Ruhig zu werden, auszuhalten, vertrauen zu lernen.
 
Ich erinnere mich gut, dass ich als Kind immer gedacht habe: Jesus kann gut mitten im Sturm schlafen. Er braucht nur ein Machtwort sprechen und Wind und Sturm schweigen still. Mittlerweile weiß ich sehr wohl, dass die Ruhe Jesu nicht daher kommt, dass er nicht gefährdet gewesen wäre. Nein, nicht lange nach dieser Begebenheit steht er selber wieder in einem Sturm. Und diesmal wird ihm der Sturm das Leben kosten - der Sturm im Garten Getsemane und auf Golgatha. Die Ruhe und Gelassenheit Jesu sind nicht darin begründet, dass der Sturm nicht gefährlich wäre, sondern dass er sich in Sturm und Wind in Gott geborgen weiß. Man könnte dieses Vertrauen in dem Wort zum Ausdruck bringen: "Was kümmert mich der Schiffbruch, wenn Gott der Ozean ist".
 
"Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?" Dieses Wort Jesu sagt den Jüngern nicht: Es wird euch nichts passieren. Und es sagt uns nicht, dass wir als Glaubende nicht den realen Gefährdungen unserer Welt ausgesetzt wären. Nein, Bedrohung, Unglück, sogar der Tod gehören zum Leben von uns Menschen, natürlich auch zum Leben der Glaubenden, so wie ja auch Jesus und die Jünger alle miteinander diesen Weg gehen mussten.
 
"Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?" Dieses Wort lädt uns ein, uns mit allem, was uns im Leben passiert, in der Gegenwart Gottes zu verankern. Inmitten der Stürme unseres Lebens sind wir nicht allein. Aus dieser Sicherheit dürfen wir unser Leben gestalten.

Amen.

Harald Fischer