Osternacht 30.03.2002


Liebe Gemeinde!

In der frühen Christenheit ertönte in der Osternacht unzählige Male der Ruf:
Christus ist auferstanden!
Und die Antwort war immer gleichlautend:
Ja, er ist wahrhaft auferstanden.
 
Ruf und Antwort gehören untrennbar zusammen. Dieses Glaubensbekenntnis ist so bedeutend, dass Ostern erst durch diesen Gruß, durch diese Verkündigung zu Ostern wurde.
 
In der orthodoxen Christenheit erschallt bis heute, auch heute Nacht, immer wieder dieser Freudenruf:
Christus ist auferstanden!
Und die Antwort folgt:
Ja, er ist wahrhaft auferstanden.
 
Vor vielen Jahren schon habe ich eine Erzählung, wohl eine wahre Begebenheit gehört, die sich im kommunistischen Rußland ereignet haben soll, in der der Glaube der orthodoxen Christen ja verboten war. Mich hatte diese Geschichte damals sehr beeindruckt.
 
Es war im Gefängnis der Moskauer Geheimpolizei. Eine der Gefangenen erzählte später von einem Erlebnis, das sie in diesem Gefängnis hatte:
"Eines Abends flüsterte mir meine junge Mitgefangene in der Zelle zu:
‚Wissen Sie, was morgen für ein Tag ist? Morgen ist Ostern!‘
War das Osterfest tatsächlich schon so nahe? Ostern ist Freude für die ganze Menschheit. Nur wir waren von dieser Freude ausgeschlossen. Trostlos ging ich den Korridor entlang.
Plötzlich durchbrach ein Schrei die bedrückende Stille: ‚Christus ist auferstanden!‘
Wer hatte es gewagt, unseren Ostergruß zu rufen – hier an diesem Ort? Ich sah meine Gefährtin an. Sie war es gewesen. Ihre Augen leuchteten in dem blassen Gesicht. Da erklang schon die Antwort. Aus jeder Zelle ertönten die freudigen Stimmen: ‚Ja, er ist wahrhaft auferstanden!‘
Die Wächter waren sprachlos, vor Staunen versteinert. Solch eine Frechheit, wie sie meinten, war ihnen noch nicht vorgekommen. Sie stürzten sich auf das junge Mädchen und schleppten sie mit sich.
Nach vier Tagen kehrte sie in meine Zelle zurück. Das Gesicht sah elend und abgemagert aus. Man hatte sie die Ostertage über in einer ungeheizten Strafzelle frieren und hungern lassen.
‚Ich habe aber doch die Osterbotschaft im Gefängnis verkündet‘, sagte sie zu mir mit leuchtenden Augen. ‚Alles andere ist ja nicht wichtig!‘ "
 
Über die Jahrtausende hinweg, durch alle Zeiten, durch Dunkelheit, Haß und Krieg: immer ist diese Botschaft in ihrer Kraft lebendig geblieben: Christus ist erstanden! Ja, er ist wahrhaft auferstanden.
 
Aus dieser Botschaft haben Menschen Kraft gefunden, über sich selbst hinaus zu wachsen. Sie haben aus dieser Botschaft heraus gelernt, ihr Leben zu gestalten. Sie haben gelernt, ihr Schicksal zu bestimmen oder es anzunehmen.
 
Liebe Gemeinde!
 
Wir sind heute hier – in sehr verschiedenen Situationen:
Manche von uns vielleicht mit einer fühlbaren Osterfreude im Herzen.
Manche sind vielleicht hier im Gottesdienst aus Tradition, einer alten Gewohnheit folgend, vielleicht von jemanden mitgenommen – ohne eine wirkliche innere Verbindung zur Osterbotschaft.
Manche von uns sind vielleicht auch hier mit Trauer, so, wie die Jünger damals nach dem Tod Jesu, weil in Ihnen vielleicht etwas tot ist und Sie Ostern (noch) nicht erreicht.
Egal, wie wir da sind: 
Uns allen gilt die Botschaft des Glaubens: Christus ist erstanden.
Das Dunkel der Nacht ist durchbrochen – selbst wenn es nicht fühlbar sein sollte.
Diese Botschaft ist lebendig, sie bleibt lebendig und sie hat die Kraft, Menschen, uns selber lebendig zu machen.
 
Wir feiern sie heute Nacht.

Amen.

Harald Fischer