24.2.2002, 2. Fastensonntag
Mt 17, 1 – 9


Liebe Gemeinde!

Der Philosoph Blaise Pascal hat einmal gesagt: "Der Mensch übersteigt den Menschen unendlich." Er meinte damit wohl die Erfahrung, daß der Mensch sich mindestens auf zwei verschiedenen Ebenen erlebt. Auf einer ersten Ebene, der physischen, erfahren wir uns mit unseren vitalen Grundbedürfnissen: dem Hunger, der Angst, der Sexualität... eben mit all den Trieben, die das menschliche Leben überhaupt erst ermöglichen und sichern.
 
Aber daneben gibt es auch das Streben nach Anerkennung und Zuwendung. Wir wollen gesehen werden und Wertschätzung erfahren. Wir sehnen uns nach Liebe. Darin deutet sich schon die zweite Ebene des Menschseins an. Wir sind nicht nur zufrieden mit dem, was wir auf der vitalen Ebene erfahren, sondern streben darüber hinaus. Es ist das Bedürfnis, das sich auf eine geistig, geistliche Dimension ausrichtet. Die nur physische, materielle Ebene genügt nicht wirklich zum Leben.
 
Vielleicht ist das der Grund, warum wir immer wieder Dinge in der Welt verklären, uns auf etwas ausrichten, was dem Leben Sinn geben soll. Oft genug sind das recht kümmerliche Versuche. Da wird z.B. die Vorfreude auf den Discobesuch am Wochenende oder auf den Jahresurlaub als Ausgleich für die Trübsal des Alltags genommen. Oder in der Faschingszeit konnte man in den Zeitungen lesen, das für viele Menschen in Brasilien der Karneval so bedeutsam ist, das sie darüber das Elend des ganzen Jahres vergessen und es in der Vorfreude auf diese Tage ertragen. Auf welche Weise auch immer: Wir suchen nach Hoffnungsidealen, auf die hin wir uns ausstrecken und mit denen wir unseren Alltag "übersteigen", verklären können. Wir "verklären" auf diese Weise unsere Welt, entweder durch Erinnerungen an die Vergangenheit oder durch Hoffnungen auf die Zukunft. Aber es ist bezeichnend, in welchem Zusammenhang wir dieses Wort "Verklärung" in der Alltagssprache meist gebrauchen. Wer etwas verklärt, gilt als nicht ganz glaubwürdig. Da spricht z.B. jemand mit leuchtenden Augen von seiner großen Jugendliebe oder von der wunderbaren Studienzeit und die Zuhörer denken: "Auf dem, was er sagt, liegt ein rosa Schimmer. " Wer verklärt, steht im Verdacht zu beschönigen und die hübsch ausgemalte Erinnerung der Wirklichkeit vorzuziehen.
 
Kann Verklärung Bestand haben und nicht nur eine Flucht aus der Realität in eine Scheinwelt sein? Nur, wenn sie verläßlich ist. Nur, wenn das Verklärte Wahrer ist, als das Vorhandene. Nur, wenn Verklärung Wirklichkeit nicht verschönert, sondern erschließt und vertieft.
 
Denn es gibt eine Wirklichkeit, die hinter der Oberfläche liegt, die Wahrer ist als das Faßbare.
 
Den Jüngern ist in dem Evangelium, das wir eben gehört haben, ein solcher Moment der Erkenntnis geschenkt. Mitten aus ihrem Alltag heraus, den sie mit Jesus erlebt haben – denn sie kennen ihn ja bereits seit Monaten, vielleicht seit Jahren und wissen um ihn – mitten aus ihrem Alltag heraus öffnet sich dieser Alltag und gibt sein Geheimnis preis. Sie erkennen etwas von der tieferen Wirklichkeit Jesu. Sie erkennen etwas von seinem Geheimnis.
 
Genau zu dieser Erfahrung sind wir in unserem Leben eingeladen. Es gibt dieselbe Wirklichkeit in unserem Leben. Da ist der Alltag, der manchmal grau und scheinbar bedeutungslos an uns vorbeizieht. Und doch ist genau dieser Alltag der Ort, an dem und durch den sich uns eine tiefere Wirklichkeit erschließen will. Ja, in unseren Enttäuschungen, in unserer Freude und in unserem Glück – da ist es uns oft noch am einfachsten und schnellsten erfahrbar und verständlich – aber auch in unseren zerbrochenen Illusionen und vielleicht sogar in Krankheiten und Nöten – ohne daß ich hier den Schmerz, der oft damit verbunden ist wegreden oder verharmlosen will – aber inmitten all dieser Dinge, die zu unserem Leben gehören und die unser Leben ausmachen, kann sich uns eine Tiefe und Wahrheit zeigen, die auf den ersten Blick oft verborgen bleibt. Wie die Jünger in der Begegnung mit Jesus eine Sinnerfahrung gemacht haben, die sie in der Tiefe ihres Lebens angerührt hat und in der ihnen die göttliche Wirklichkeit selber aufgestrahlt ist, so kann sich uns in unserem Leben, in unserem Alltag, in den Menschen, mit denen wir leben, eine solche Sinnerfahrung, eine solche göttliche Gegenwart schenken und zeigen.
 
Eigentlich haben die Jünger in ihrer Begegnung mit Jesus auf dem Berg der Verklärung nichts Neues erfahren. Das Wort der Offenbarung, das die Verklärung Jesu begleitet: "Das ist mein geliebter Sohn. Auf ihn sollt ihr hören!", das kennen wir schon aus der Tauferzähluing vom Jordan. Aber das, was die Jünger bisher nur gehört haben, was Erzählung war- hier erfahren sie es jetzt . Es wird Wahrheit, Erfahrung für sie.
 
Indem uns diese Erzählung überliefert wird, indem wir sie hören, sind wir eingeladen in unserem Leben damit zu rechnen eine ähnliche Erfahrung zu machen wie die Jünger: Das sich mitten in unserem Alltag das Geheimnis der Gegenwart Gottes zeigt und enthüllt.
 
Wir feiern ja diese göttliche Wirklichkeit immer wieder in unserer Liturgie, auch jetzt hier, im Gottesdienst. Es sind herausgehobene Zeiten, die unseren Alltag in dieses Licht der Gegenwart Gottes hüllen und daran erinnern. Und wir feiern diese göttliche Gegenwart ebenfalls mit den Materialien des Alltags: Brot und Wein sind die Grundnahrungsmittel des Lebens der Zeit Jesu. Und in diesen Grundnahrungsmitteln zeigt sich den Augen des Glaubens göttliche Wirklichkeit, die über unser Leben hinausweist: der verklärte Christus. Er selber ist mitten unter uns.
 
Wenn ich Verklärung so verstehe, bedeutet sie nicht mehr in der Erwartung von Sonnenschein und Urlaub dem Alltag auszuweichen, sondern damit zu rechnen, dass wir im Alltag und durch den Alltag hindurch Gottes Gegenwart im Glauben schauen dürfen.
 
So kann ich das Wort von Blaise Pascal in einer spirituellen Weise verstehen: "Der Mensch übersteigt den Menschen unendlich". Das bedeutet dann, daß die Sehnsucht des Menschen nach Sinn ihre Erfüllung darin findet, daß wir in der Wirklichkeit unserer Welt die Gegenwart, die Wirklichkeit Gottes selber erkennen. Wenn ich diese Welt anschaue, kann ich im Glauben erkennen, daß ich darin göttliche Wirklichkeit anschaue. Die Erfahrung der Jünger auf dem Berg der Verklärung gibt Zeugnis davon.
 
Harald Fischer