16.12.2001
Mt 11,2-11
Liebe Gemeinde!
"Bist du der, der kommen soll? Oder müssen wir auf einen anderen warten?" (Mt,11,3). Das ist eine Frage, in der sich wohl viele Menschen wieder finden können.
Wir bereiten uns auf Weihnachten vor. Wen, was erwarten wir an diesem Fest eigentlich? Wenn wir ehrlich sind, müssen viele vermutlich antworten: Eigentlich nichts. Jedenfalls nichts wirklich wichtiges. Vielleicht erwarten wir ein Familienfest, vielleicht Besuch. Aber im Grunde genommen ist alles wie gehabt.
Wenn wir uns aber die Zeit nehmen, auf einer tieferen Ebene einmal nachzufragen und nachzudenken. Gibt es eigentlich eine religiöse Erwartung in meinem Leben?
Welche eigentlich? Wenn ich mir vorstelle, der Messias, der Heiland, der Retter der Welt für mich - er würde kommen. Welche Gestalt sollte er haben, damit ich ihn als solchen erkennen und mit Freuden annehmen könnte? Nicht nur als eine von außen, liturgisch vorgegebene Größe, sondern als etwas, worauf ich mich mit meinem Herzen ausrichte. Welche Erwartung habe ich?
Johannes stellt sich diese Frage und gibt uns damit einen erschütternden Einblick in sein Leben, in seine Glaubenssituation dieses Momentes. Er war einer der großen Gottesliebhaber, von denen uns die Bibel erzählt. Er hat sich selber im Dienst des lebendigen Gottes gesehen, im Dienst der Glaubenstradition Israels. Über lange Zeit hat er mit einer großen geistlichen inneren Klarheit und Selbstsicherheit gelebt, einer spirituellen Tiefe, die viele Menschen veranlaßt hat, zu ihm zu kommen und ihn um Wegweisung und Hilfe zu bitten. Er hat sich verstanden als der Vorläufer des Messias, als Prophet, der das Strafgericht Gottes ankündigt, das der kommende Messias schon bald vollziehen wird. "Nach mir kommt einer, der größer ist als ich." Und er hat eine klare Vorstellung gehabt, welcher Art dieser Messias sein soll nämlich jemand der endlich die Rache Gottes ausübt und der Gerechtigkeit herstellt. "Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt. Jeder Baum, der keine gute Frucht trägt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. Ihr Schlangenbrut! Wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem kommenden Gericht entrinnen könnt. Bringt Früchte hervor, die eure Umkehr zeigen!" (Mt 3,7-8) So haben wir Johannes im Evangelium des vergangenen Sonntags gehört. Er hat eine klare Vorstellung davon, wie der Messias aussehen sollte und wie er handeln würde.
Und er wusste auch, auf wen er diese Erwartung richtet, nämlich auf den, zu dem er gesagt hat: "Ich bin es nicht wert, dass du mir die Schuhriemen löst." Oder nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums weist er auf Jesus und sagt: "Seht, das Lamm Gottes" (Joh 1,36). Er hat die Erwartung gehabt, dass in Jesus sich das erfüllt, wovon er redet und dass er, Johannes, der Vorläufer des Größeren ist, nämlich Jesus.
Und jetzt, im Gefängnis, im Angesicht des drohenden Todes, überkommen ihn Zweifel, Glaubenszweifel. "Bist du es, auf den ich gewartet habe, von dem ich geredet habe. Oder habe ich mich getäuscht und meine Hoffnungen sind ins Leere gelaufen?"
Welche Not spricht aus diesen Worten! Johannes hatte bestimmte Erwartungen - und gerade die sind nicht erfüllt worden. Seine religiösen Vorstellungen, wie der Messias handeln würde - als Axt an der Ungerechtigkeit seiner Zeit, die mit Gewalt umhaut, was seiner Meinung nach keine Lebensberechtigung hat - diese Vorstellungen sind so durch Jesus nicht einfach umgesetzt worden.
Liebe Gemeinde! Diese Erfahrungen kann jeder im religiösen Leben immer wieder machen. Es kann immer wieder passieren, dass man wie Johannes der Täufer auf einmal verunsichert wird - durch irgend etwas; dass man zweifelt, dass eigene Vorstellungen ins Wanken geraten und nicht mehr tragen. Man merkt dann: Was bisher getragen hat, es gilt so nicht mehr. Das ganze Lebensgefüge kommt ins Wanken und eine riesengroße Angst und eine Unsicherheit tut sich auf.
Glaubenszweifel - das ist oft eine große Not, mit der viele Menschen immer wieder konfrontiert sind. Es ist eine Not - aber oft sind solche Zweifel, sind solche Ängste, sind solche Verunsicherungen auch die Voraussetzungen dafür, dass ich weiter gehen kann, dass ich etwas Altes loslassen kann, weil ich merke: Es stimmt so nicht mehr. Nur so kann ich einen Schritt weiter gehen, der mich auch in einen geistlichen Wachstumsprozess hineinführen kann, durch den ich Neues lerne und nicht nur beim Alten stehen bleibe.
Johannes nimmt seine Zweifel ernst und setzt sich mit ihnen auseinander. Ich stelle mir vor, dass er sich zunächst mit seinen Jüngern zusammengesetzt hat, mit ihnen gesprochen hat: "Was habt ihr über Jesus gehört? Was predigt er? Welche Spiritualität gehört zu ihm? Wie redet er über Gott? Wie geht er mit den Menschen um? Wie versteht ihr ihn?" Und aus diesem Dialog heraus schickt er einige zu Jesus, die ihn direkt ansprechen und ihm diese Frage stellen: "Bist du es...? Oder haben wir uns in dir getäuscht?"
Und was für eine Antwort hören wir von Jesus! Er sagt nicht einfach Ja oder Nein und legt damit fest. Er gibt Hinweise, benennt Erfahrungen die Menschen machen. Die Deutung all dessen bleibt offen. Die Glaubensentscheidung kann keinem abgenommen werden. Das ist eine ganz individuelle Angelegenheit, mit der sich jeder für sich selber auseinandersetzen muss. Der Sprung des Wagnisses, das zu deuten, was ich erlebe, kann von keinem anderen getroffen werden, als von mir selber.
Wir haben es gehört. Jesus antwortet: "Geht und berichtet dem Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder, Taube hören, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Tote stehen auf und den Armen wird die Frohe Botschaft verkündet." Damit greift Jesus ein Zitat auf aus dem Propheten Jesaja auf, das wir in der Lesung gehört haben: "Macht die erschlafften Hände wieder stark und die wankenden Knie wieder fest. Sagt den Verzagten: Habt Mut! Fürchtet euch nicht. Seht, hier ist euer Gott. Die Rache Gottes wird kommen und seine Vergeltung." (Jes.35,3-4) Wie Johannes der Täufer die Rache Gottes verstanden hat, und seine Vergeltung - das haben wir im Evangelium des letzten Sonntags gehört. Er hat sie durchaus auch in einer gewalttätigen Weise verstanden, nämlich als Axt an der Wurzel der fruchtlosen Bäume.
Aber der Prophet Jesaja führt dann weiter, wie er, Jesaja, die Rache Gottes versteht. "Die Rache Gottes wird kommen und seine Vergeltung. Er selbst wird kommen und euch erretten. Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, die Ohren der Tauben sind wieder offen. Dann springt der Lahme wie ein Hirsch und sie Zunge des Stummen jauchzt auf." (Jes 35,5-6). Dieses Wort greift Jesus auf. Er sagt: "Dort, wo ich das Evangelium von der Liebe Gottes verkünde, wo dieses Wort laut wird, da kommen Menschen zu einer neuen Weise, das Leben wieder zu sehen. Sie können in einer neuen Weise hören und verstehen. Menschen die tot waren, fangen wieder an, lebendig zu werden." Das ganze gipfelt im Wort: "Und den Armen wieder das Evangelium, die Frohe Botschaft verkündet." Das ist das Selbstverständnis Jesu. Er sieht sich im Dienst dieser Verheißung des Jesaja.
Liebe Gemeinde! Die Zeit des Advents kann auch für uns selber eine Zeit der Klärung sein, wie für Johannes der Täufer. Eine Zeit der Klärung dieser Frage: "Was erwarte ich eigentlich? Vielleicht ist es eine Zeit der Auseinandersetzung und der Wandlung von eigenen Vorstellungen und Erwartungen. Dafür muß ich mich immer wieder mit den Heiligen Schriften unserer Tradition auseinandersetzen um zu erkennen, was mir von Gott geschenkt wird und es von dem unterscheiden zu können, was nur meine selbstgemachten Bilder und Hoffnungen sind.
Vielleicht stirbt dabei etwas von meinen eigenen Vorstellungen. Vielleicht stirbt etwas von meinen eigenen Ideen und Plänen, von meiner eigenen Sicht. Aber vielleicht wird auch etwas Neues geboren, etwas Neues geschenkt. Vielleicht entdecke ich den lebendigen Gott auf eine ganz neue und unverhoffte Weise. Vielleicht kann ich so Anteil nehmen an der Erfahrung des Jesaja: "Sagt den Verzagten: Habt Mut! Fürchtet euch nicht. Hier ist euer Gott. (Jes. 35,4).
Harald Fischer