Friede, Friede – und ist doch kein Friede (Jer 6,15)
Friedensgottesdienst 25. November 2001, St. Familia
Lk 21,5-19  
 

 
Liebe Schwestern und Brüder! 
 
Das Evangelium ist nicht nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen zu vergangenen Zeiten gesprochen. Es überdauert die Zeiten – und doch ist es höchst aktuell. Man könnte meinen, dass Jesus die Worte des Evangeliums, die wir eben gehört haben, gerade für unsere Zeit geschrieben hat.
 
In einer Zeit, in der die Welt wieder glaubt, gerechte Kriege führen zu können, in einer Zeit, in der Deutschland den m.E. fatalen und falschen Entschluss gefasst hat, sich in einem anderen Erdteil wieder an einem Krieg zu beteiligen, an einem Krieg, von dem ich bis heute nicht wirklich weiß, gegen wen genau er geführt werden soll, wo er geführt werden soll, wann er siegreich beendet oder für verloren erklärt werden kann – verschleiernd wird es der "Internationale Kampf gegen den Terrorismus" genannt – aber es ist der Krieg in Afghanistan unter dem zuerst die Zivilbevölkerung dort zu leiden hat – in dieser Zeit hören wir aus dem Evangeliums: "Lasst euch davon nicht erschrecken" (V.9).
 
Es fällt mir wirklich nicht leicht, das in diesem Zusammenhang zu hören. Ich kann es auch nicht fatalistisch sehen, als würde Jesus meinen, das sollte und müsste so sein. Ich höre das als Ausdruck der Weisheit, des Lebenswissens Jesu, der es erlebt hat: Menschen glauben immer und immer wieder auf diese Weise, auf dem Weg der Gewalt, etwas erreichen zu können. Er hat es selber erlebt. Er ist selber dieser Gewalt ausgesetzt gewesen und – menschlich gesprochen – ist er selber an dieser Gewalt zerbrochen. Durch seine Botschaft, durch seine Liebe ist der Hass nicht gestorben. Auch nicht durch seine Auferstehung. Die Welt ist die gleiche geblieben: vor seinem Leben, während dessen und auch danach. Ja, es hat auch danach die Situation gegeben, dass Menschen sogar glaubten, im Namen Gottes, in seinem Dienst Gewalt anwenden zu dürfen – um Gott damit zu dienen. Sie kennen vermutlich das Gebet eines des Terroristen, dass nach dem Anschlag in seinem Gepäck gefunden wurde. Darin heisst es: "Wenn ihr das Flugzeug betretet, betet: Oh Herr, öffne alle Türen für mich. Oh Herr, der meine Gebete erhört und diejenigen erhört, die dich bitten, ich erbitte deine Hilfe. Ich erbitte deine Vergebung. Ich bitte dich, erleuchte meinen Weg." Und weiter heisst es: "Jeder hasst und fürchtet den Tod. Aber nur die Gläubigen, die wissen, dass es ein Leben nach dem Tod und nach dem Tod die Belohnung für das Leben gibt, werden den Tod suchen." Ganz ähnliche Töne kennen wir aber auch aus unserer eigenen Geschichte, aus der Geschichte der Christen. Im Jahr 1095 hat Papst Urban II. mit folgenden Worten zum Kreuzzug aufgerufen: "Bewaffnet euch mit dem Eifer Gottes, Brüder, gürtet eure Schwerter an eurer Seite! Rüstet euch und seid Söhne des Gewaltigen! Besser ist es, im Kampfe zu sterben, als unser Volk leiden zu sehen. Wir erlassen durch die Barmherzigkeit Gottes allen Christen, die gegen die Heiden die Waffen ergreifen alle Strafen, welche die Kirche für ihre Sünden über sie verhängt hat. Und wenn einer dort fällt, so darf er fest glauben, dass ihm die Frucht des ewigen Lebens zuteil wird".  
 
Immer wieder haben Menschen geglaubt, die Gewalt als Lösungsmodell für Konflikte einsetzen zu können, und sind damit in die Irre gegangen. Die Welt bleibt dieselbe.
 
Aber uns, den Menschen, die sich auf den Lebensentwurf Jesu ausrichten wollen, ist damit eine Aufgabe gestellt, nämlich: in dieser Welt Zeugnis abzulegen von dem Weg, den Jesus selber für sich gewählt hat. Welches Zeugnis ist das?
 
Ich kann nicht glauben, dass wir als Christen kein anderes Zeugnis haben, als unsere Politiker. Vielleicht müssen sie so handeln, wie sie es in diesen Tagen tun. Ich verstehe es nicht und halte es auch nicht für richtig.  
 
Aber sollten wir, in der Nachfolge Jesu, indem wir uns bemühen, sein Wort aufzugreifen und in unserem Leben umzusetzen, auf die Bedrohung unserer Zeit keine andere Antwort haben, als Streubomben zu werfen, die spielende Kinder töten? Keine andere Antwort als die, Raketen abzuschiessen, die die Zivilbevölkerung treffen, Rot–Kreuz–Depots zerstören, Moscheen mit betenden Menschen vernichten, Städte und Dörfer unbewohnbar machen, Tausende in den Hungertod treiben und Hunderttausende zur Flucht zwingen?
 
Welche Logik steckt dahinter, die das als Weg zum Frieden ansieht? Vielleicht kann man der Hydra des Terrorismus tatsächlich einen Kopf abschlagen. Aber es wachsen sofort unzählig neue nach, wenn man es auf diese Weise versucht. Es deutet sich ja schon an, dass durch die westliche Gewalt in Afghanistan nur weitere Mörderbanden gefördert werden, die ihre eigenen Interessen mit Gewalt und Massakern durchsetzen wollen. Niemand weiss, was in diesen Stunden z. B. in Kundus wirklich passiert. Schon deutet sich an, dass dieser Krieg ausgeweitet wird gegen andere Länder, andere Gruppen. Irak und Somalia sind im Gespräch. Nach diesem Dammbruch, der in diesen Wochen in der gesamten westlichen Welt geschehen ist, wird sich in Zukunft mühelos die Argumentation finden lassen, die notwendig ist, um die angebliche Moral des jeweiligen Krieges zu bestätigen.
 
Als Christ in diesem Land kann man durchaus enttäuscht sein von unseren Politikern, zumal von denen, die sich noch christlichen Werten verpflichtet fühlen.  
 
Wo bleiben die nachdenklichen Stimmen, die es auch nur gewagt hätten, öffentlich tiefer nach den Ursachen des Terrorismus zu fragen?
 
Wieso sind wir nach dem 11. September 2001 auf einmal alle zu Amerikanern geworden, mit dem Versprechen zur "uneingeschränkten Solidarität", das ein militärisches Eingreifen geradezu aufgenötigt hat?
 
Wieso kommt man auf einmal in die merkwürdige Situation, sich in der Nähe von fürchterlichen Terroristen fühlen zu müssen, wenn man eine militärische Lösung dieses Konfliktes ablehnt?  
 
Ich will mit diesen Fragen nicht nahelegen, dass ich, dass wir den Weg aus dem Konflikt, aus der Bedrohung, der wir uns z. Zt. ausgesetzt sehen, einfach wüssten. Es gibt viele Ursachen, und die Probleme sind in der Tat komplex. Aber es scheint so, dass bei der Lösung zu schnell auf die Karte "Gewalt" gesetzt wird.
 
Es ist zumindest ein Irrtum, wenn Politiker glauben, mit Gewalt eine "grenzenlose Gerechtigkeit" herbei zwingen zu können.
 
Gestern, am 24. November 2001, ist etwas schreckliches geschehen in unserer Welt: weltweit sind etwa 23.000 Kinder gestorben – an Hunger – einfach so!  
 
Aber kein Präsident ist vor die Kameras der Weltöffentlichkeit getreten und hat das einen Anschlag gegen die Zivilisation und gegen die Menschlichkeit genannt.
 
Kein Bundeskanzler hat den Hungernden uneingeschränkte Solidarität versprochen und zum internationalen Bündnis und zum Kampf gegen Unterentwicklung und Armut aufgerufen.  
 
Es sind keine Steuererhöhungen eingeführt worden, um erste Schritte in diesem schweren und langwierigen Kampf gegen Unterentwicklung und Hunger zu finanzieren.
 
Nein, auch nach dem 24. November 2001 bleibt alles so, wie es war.
 
Solange Hunger und Not nicht zum Terror gerinnen, ist uns das Schicksal dieser Menschen ziemlich egal.
 
Es ist falsch – und man muss wohl sagen, es ist verlogen –, wenn Politer vorgeben, mit teuren Waffen eine "grenzenlose Gerechtigkeit" herbeibomben zu wollen.
 
Der Prophet Jeremia hat vor über 2500 Jahren in der geschichtlichen Situation seiner Zeit die Verantwortlichen vor dem falschen Weg gewarnt. Er hat den Mächtigen zugerufen: " Ihr sagt leichthin "Friede, Friede" – um euren Weg zu rechtfertigen und die Menschen ruhig zu halten; aber es ist kein Friede" (Jer 6,15). Er hat gesehen, dass der Weg der Gewalt sein Volk in den Untergang führt. Seine Mahnungen sind nicht gehört worden!
 
Die politische Logik, die versucht, Friede durch Waffengewalt herzustellen, wird von der biblischen Botschaft radikal in Frage gestellt, ja geradezu verneint. Vom Leben Jesu her lernen wir eine andere Ausrichtung. Von seiner Botschaft her können wir lernen, uns zu weigern, uns das Denkschema des Feindes aufzwingen zu lassen.
 
Wir können uns weigern, das Hassen zu lernen und ihm entsprechend zu handeln. Gerade das würde uns in eine gefährliche Nähe zur Haltung der Terroristen bringen.
 
Von Jesus her sind wir auf einen anderen Weg gesetzt:
Er nennt die Sanftmütigen selig; die, die nicht zuschlagen, um ein Problem zu lösen.
Er preist den Weg derer, die das Herz der anderen suchen, die Vergebung leben, Barmherzigkeit statt Vergeltung üben.
 
Heute, am Christkönigssontag, feiern wir in der Liturgie der Katholischen Kirche den Christkönigssonntag. Wir bekennen dabei, dass in der Ohnmacht der Liebe – sogar noch am Kreuz – sich eine stärkere Macht zeigt, als in dem waffenstarrenden Frieden, den Rom zur Zeit Jesu den unterjochten Ländern aufgezwungen hat.
 
Ihr sollt meine Zeugen sein! Ich verstehe dieses Wort Jesu als Herausforderung an die Christen heute, an uns, als seine Kirche, für diese Wahrheit einzustehen und aus ihr heraus Antworten auf die Probleme unserer Zeit zu suchen.

Harald Fischer