17. November 2006,
Einführung von Herrn Dieter Sommer als neuer Schulleiter des Engelsburggymnasiums
1 Kön 3
 
 
Liebe Festgemeinde!
 
Zugegeben: Die Erzählung vom Traum des jungen Salomo, die wir eben gehört haben, klingt wie ein Märchen. Im Schlaf, im Traum erscheint dem jungen 20-jährigen König JHWH-Gott, und der hält ihm einen Wunsch frei. Es gibt viele Märchen, die mit eben diesem Motiv beginnen - und dann das Scheitern desjenigen erzählen, der sich etwas wünschen durfte. In der Regel geht der Betroffene an seinen eigenen Wünschen zugrunde, an ihrer Maßlosigkeit oder Vordergründigkeit und Kurzsichtigkeit, an ihrer egoistischen Selbstbezogenheit. Unser Märchen wird anders erzählt.
 
Nachdem JHWH-Gott Salomo eine Bitte gewährt hat, an deren Erfüllung sich Gott vorab bindet, gibt dieser zunächst zur Antwort: „Ich bin noch sehr jung und weiß nicht, wie ich mich als König verhalten soll.“ Diese Entgegnung überrascht, denn gerade wegen seiner Jugendlichkeit könnte man ja erwarten, dass der König voller Ideen sein Amt antritt, dass er einen ganzen Reigen von Plänen und Projekten im Auge hat, die sein Vater David nicht realisiert hat oder nur teilweise. Man könnte auch erwarten, dass er bewusst einen ganz anderen Führungsstil als dieser Übervater David pflegen möchte und dafür schon ganz konkrete Vorstellungen entwickelt hat, diese neue Kultur von Führung und Gestaltung des Reiches erfahrbar werden zu lassen. Doch nichts von dieser erwarteten Sicherheit kommt in der Antwort Salomos zum Ausdruck, stattdessen: Nachdenklichkeit, realistische Selbstwahrnehmung und eine ebensolche Einsicht in die eigenen Grenzen: „Ich bin noch ganz unerfahren und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll...“, sagt er, wie zu sich selbst, in klarer Wahrhaftigkeit. Wir kennen diese mutige und wahrhaftige Selbsterkenntnis auch von anderen Männern und Frauen der Bibel: So lehnt Mose zunächst den Exodus-Auftrag ab mit den Worten: „Ich bin keiner, der gut reden kann...“; und der Prophet Jeremia entgegnet Gott bei seiner Berufung: „Mein Gott und Herr, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung.“ Ich denke, es gibt bei allen dreien einen Zusammenhang zwischen der Einsicht in ihre eigenen Grenzen und damit in ihre Angewiesenheit und der Größe ihrer Berufung!
 
Salomo jedenfalls entgegnet Gott und spricht seinen Wunsch aus: „Verleih deinem Diener ein hörendes Herz.“ Vielleicht irritiert uns diese Verbindung: ein „hörendes Herz“ - wie kann das Herz hören? Wie kann ich mit meinem Herzen hören?
 
Das Wort „hören“ gehört zu den am häufigsten verwendeten Verben der Ersten Bibel; insbesondere im Buch Exodus und Deuteronomium, also in den beiden zentralen Büchern der Tora, tritt es am häufigsten auf. Das hebräische Wort schamah für „hören“ meint in seiner Grundbedeutung eigentlich „starren, hinstarren, staunen“ - wir kennen das von kleinen Kindern: Sehen oder hören sie etwas Neues, bisher Ungekanntes, dann sind sie völlig bezogen auf diese Erfahrung, in diesem Augenblick ganz ungeteilt anwesend bei ihrer Wahrnehmung, hingegeben an das Gehörte, Gesehene. „Hören“ meint in der biblischen Bedeutung eben diese ungeteilte Aufmerksamkeit, die ganze Ausrichtung auf das Gegenüber; im deutschen Sprachgebrauch findet diese Bedeutung des hebräischen „hören“ Anklang in den Worten „zu-hören“, „an-hören“, „er-hören“; auch im Wort „gehorchen“, in dem ja das „hören“ enthalten ist, klingt diese ursprüngliche biblische Bedeutung noch durch.
 
Fragen wir uns: Was soll der Mensch hören, was soll Gott hören?
 
Es verwundert nicht, dass das Glaubensbekenntnis des Juden mit eben diesem Wort beginnt: „Schmah - Höre! Höre, wie ein kleines Kind hört“! Die ersten drei Worte des Bekenntnisses lauten vollständig: „Schmah Jißrael JHWH - Höre Israel JHWH“! Was also soll Israel hören? Nichts anderes als den Gottesnamen „JHWH“ - der übersetzt heißt: Ich bin da für euch. Glauben beginnt also mit dem Vertrauen auf die Wahrheit des Namens Gottes: Höre, Israel, höre, o Mensch, meine Zusage: Ich, dein Gott, stehe an deiner Seite, ich stehe hinter dir, gehe vor dir her.
 
Und was hört Gott? Das Hören Gottes wird im Buch Exodus zum ersten Mal im dritten Kapitel erwähnt: „Ich habe das Klagen und Wehgeschrei meines Volkes in Ägypten gehört!“ JHWH-Gott hört also immer zuerst unsere Not, unsere Verzweiflung, er hört unsere Angst und unseren Kummer. Und er hört all dies wie ein kleines Kind zuhört: Er ist „ganz Ohr“, ungeteilt anwesend in unserer Not, ungeteilt zugewandt, völlig präsent.
 
All dies schwingt mit im Wunsch Salomos, so hören zu können: Ein König, der zuhören will; der dies als seine vornehmste Aufgabe ansieht. „Ich wünsche mir und erbitte von dir, Gott, das mein Amt, mein Dienst das Hören sei“, so könnte man Salomos Antwort auf Gott übersetzen, „das Hören auf deinen verheißungsvollen Namen und das Hören auf die Not meines Volkes.“ Beides gehört zusammen, ja vielleicht verhält es sich überhaupt so: indem er die Namenszusage Gottes ganz in sich aufnimmt und zur Grundlage seines Vertrauens, wird Salomo erst empfänglich und bereit zum Hören in die andere Richtung, zum Hören auf die Klage und Not seines Volkes.
 
Und das hörende Herz? Für den Hebräer birgt das Herz den Sitz sowohl der gesamten Lebenskraft, als auch das Zentrum aller Empfindungen. Der Wille hat hier seinen Ursprung ebenso wie das Denken und das Wissen. In der jüdischen Vorstellung konstituiert sich die Person, die Personalität eines Menschen, also seine unverwechselbare und einmalige Individualität und damit seine Würde durch zweierlei: durch sein Angesicht und durch sein Herz. Letzteres ist Kern, Mitte des Menschen, geistig-seelisch-sittliches Zentrum. In der Moderne sprechen wir gerne von der Ganzheitlichkeit des Menschen und meinen damit, dass seine geistigen und geistlichen, seine emotionalen, psychischen und moralischen Anteile aufeinander abgestimmt und miteinander in fruchtbarer und ausgeglichener Harmonie stehen; und das bedeutet: Kopf und Verstand, Herz und Liebe sind eins, weil sie der einen gemeinsamen Mitte des Menschen entstammen.
 
Die Bitte des Salomo gefällt mir: Ein hörendes Herz - also ein Mensch zu sein, der mit seiner ganzen Existenz ein Hörender ist, geöffnet für sich, für Gott, für die Menschen, aufmerksam, liebevoll, empfindsam. Er wünscht sich ein Mensch zu werden, der es versteht, gut hin zu hören; der es versteht, die Geister zu unterscheiden; der einen inneren Sensus hat für das, was andere ihm zu sagen haben, auch der Andere, Gott. Der sich etwas sagen lässt.
 
Und vor allem: Der es versteht, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Natürlich klingt in diesem Wunsch die Erinnerung an die Erzählung von der Versuchung des ersten Menschen an: Die Schlange hatte versprochen: „Wenn ihr davon esst, werdet ihr wie Gott und erkennt Gut und Böse.“ Das ist ja die Ur-Versuchung von uns Menschen, vor allem und besonders dann, wenn wir wie Salomo in einer großen verantwortlichen Position stehen, wenn uns Menschen anvertraut sind: Sich zu fühlen, ja mehr noch, zu sein wie Gott. Dieser Versuchung zu erliegen, so erzählt dieser alte biblische Mythos am Anfang der Bibel, schwört eine Katastrophe herauf. Salomo kennt freilich diese Geschichte und ihren Ausgang und bittet, um auf das Recht hören zu können, um ein hörendes Herz. Und Gott schenkt es ihm: „Siehe, ich gebe dir ein weises und unterscheidendes, ein klares Herz“, wie es wörtlich heißt.
 
Liebe Festgemeinde, lieber Dieter!
 
„Ich weiß nicht, wie ich mich als König verhalten soll.“ Ich kann mir denken, dass es immer wieder Situationen gibt, die dich wie Salomo empfinden lassen. Und ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist, jedem in dieser großen Schule, deinen Kollegen, den Schülern, den Eltern, den übrigen Mitarbeitern, ihr Recht zukommen zu lassen, also ihnen gerecht zu werden. Vieles lässt sich praktisch lösen, dann auch rechtlich, also auf dem Boden juristischer Setzungen. Und doch: Unerlässlich scheint die Spiritualität des Hörens zu sein, jedenfalls für Salomo; er scheint zu wissen - und das macht ihn weise - dass er seine Führungs- und Gestaltungsaufgabe, auch seine Entscheidungskompetenz nie nur allein aus sich selbst schaffen kann, dass er nie aus eigener Vollkommenheit heraus den rechten Weg findet, sondern nur im Hören auf andere - und letztlich auf den Anderen, auf Gott.
 
Um eben dies bitten und beten wir, für dich und deinen Dienst, in diesem Gottesdienst.
 
Amen.

Otmar Leibold, Schulseelsorger