8. November 2006, Gedenkgottesdienst für die Verstorbenen der Engelsburggemeinde
Ezechiel 37, 11 ff
Joh 11 - Auferweckung des Lazarus
 
 
Liebe trauernde Angehörige, liebe Gemeinde!
 
Zugegeben: Die beiden eben gehörten Erzählungen klingen unrealistisch, regelrecht unwahrscheinlich. Sollen wir wirklich glauben, dass Jesus den seit vier Tagen verstorbenen Lazarus wieder zum Leben erweckt hat? Ist dieser Satz wirklich wahr und glaubhaft: „Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf. Ich bringe euch zurück in das Land Israel.“
 
Wir müssen, um Johannes verstehen zu können, uns auf eine Reise begeben. Eine Reise an einen womöglich noch unbekannten Ort, jedenfalls eine Reise von der Art, dass ich meinen alten, vertrauten „Stand-Ort“ aufgerufen bin zu verlassen.
 
Johannes erzählt in seinem Evangelium sieben Wunder, er nennt sie „Zeichen“. Im Kapitel 20 stellt er ausdrücklich heraus, was er mit diesen Zeichen bezeichnen und bewirken will. Er sagt: „Diese Zeichen sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr als Glaubende das Leben habt in seinem Namen.“
 
Damit meint er: Diese Zeichenerzählungen entbergen erst dann ihren tiefen Sinn, wenn ich zweierlei glauben kann:
 
Zum einen, dass der Mensch Jesus aus Nazaret in seinem ganzen irdischen Menschsein kein anderer ist als zugleich der heruntergekommene Gott. Dass Gottes Größe sich zeigt in dieser unvorstellbaren, niemals von einem Menschen für möglich gehaltenen und einem Gott niemals zugetrauten Erniedrigung und Selbstentäußerung.
 
Und zum zweiten: Dass, wenn ich den Glauben an diesen Gott wage, mir aus eben diesem Glauben Leben erwächst in einer Weise, die ich bisher weder erlebt und gekannt noch geahnt hätte: „Leben in Fülle“, wie Jesus nicht müde wird im Johannesevangelium zu sagen, Leben trotz Leid, Leben nämlich trotz Erniedrigung, trotz Tod.
 
„Ich glaube an Jesus“ heißt für Johannes: Ich glaube an seinen Namen, ich glaube seinem Namen; der Jesus-Name Jeschua lautet übersetzt: „Gott rettet“. Ich glaube Jesus, seinem Namen, heißt dann: Ich glaube und vertraue, dass Gott rettet, dass er Leben schenkt, Leben in Fülle. Das Wort Leben gehört zu den von Johannes am meisten benutzen Worten, es stellt einen zentralen Begriff und wohl eine zentrale Glaubenserfahrung für ihn dar.
 
In sieben Zeichen beschreibt Johannes, wie dieses neue Leben, das vor dem Tod beginnt, aussieht: Zu allererst hat es etwas zu tun mit Fest und Freude, mit Leichtigkeit also und auch mit Liebe - das Weinwunder von Kana; dann hat es etwas zu tun mit Grenzüberschreitung, dass Fern liegendes kommt nahe, unmöglich Geglaubtes wird möglich, Fremdes vertraut - die Fernheilung des Sohnes des königlichen Beamten;
 
es entfaltet Heilungskräfte, es bringt etwas in Bewegung, was erstarrt, steif geworden war, unbeweglich und abhängig - die Heilung des Gelähmten; es stillt endlich den Hunger, die Sehnsucht in uns, die alle irdischen Möglichkeiten von Sättigung, von Zufriedenstellung, von Sattwerden bei weitem übersteigt - das Zeichen der Brotvermehrung; schließlich hilft es, mit den eigenen Ängsten leben zu können, ein Vertrauen in das Leben jenseits aller Angst zu wagen - der Seewandel Jesu; es öffnet den Blick das eigene Leben, die Menschen, alle Menschen, ob symphatisch oder unsymphatisch, im Licht Jesu zu sehen - die Blindenheilung;
 
Ja, dieses neue Leben des Glaubens, das das Vertrauen auf den Namen Jesu bewirkt, ist geradezu eine Auferweckung des Glaubenden aus dem Tod seiner früheren Lebensform, ein Herauskommen zu eben diesem neuen Leben: „Lazarus, komm heraus!“
 
Und sollte dieser Gott, der es schon vermag, sein Leben in Fülle uns, dieser alten Welt, uns alt und müde gewordenen Menschen zu schenken, nicht auch vermögen, dass er als siebte Gabe an uns das Leben schenkt in Fülle nach Tod? Weil wir das eine hier und jetzt erfahren können, die Wirklichkeit Gottes mitten unter uns, können und dürfen wir das andere hoffen, für uns, für unsere Angehörigen, die uns vorangegangen sind, derer wir heute gedenken.
 
Diesen Glauben an Jeschua, an „Gott rettet“, finde ich nicht von heute auf morgen; ich kann ihn nicht machen, kann ihn selbst nicht herstellen. Einzig kann ich um ihn beten, hier in diesem Gottesdienst, zusammen mit Jesus, der in den letzten Stunden seines Lebens um eben diesen Glauben gebetet hat.
 
Und ich kann mich auf den Weg machen, mit Johannes.
 
Er hat sein Evangelium angelegt als Weg, weil er den Glauben als einen Weg ansieht, den kein geringerer als Gott selbst mit mir geht, mit jedem von uns. Ich muss auf meinem Glaubensweg nicht hinten, beim letzten Zeichen beginnen. Ich kann, wie es ja auch vernünftig ist, mit dem ersten Zeichen beginnen, mein Vertrauen, meinen Glauben an den Namen Jesu wagen: Dass das von Jesus verheißene und geschenkte neue Leben einem heiteren Fest gleicht, einem Tanz, dass dabei der Wein nicht ausgeht, die Freude also, die Zuversicht ins Gelingen, dass alles gut wird, dass Gott alles gut werden lässt für mich und für denjenigen, um den ich heute trauere; und dass er das Gute vollendet im Tod.
 
Wir feiern jetzt ein Fest, das Fest der Eucharistie. Wir erfahren, dass unser täglich verwässertes Leben zu Wein wird; und wir kosten davon, lernen den Geschmack dieses neuen Lebens kennen, nehmen ihn mit nach draußen, in das „alte“ Leben und beten: Gott, öffne meine Grabexistenz, bewirke, dass ich mich von dir herausrufen lasse zu einem Leben, das ich noch gar nicht kenne, das ich aber leben will im Vertrauen auf den Namen Jesu. Und bewirke, dass du unsere Verstorbenen herausrufst aus ihrem Tod, um sie und ihr irdisches Leben zu vollenden.
 
Amen.
 
Otmar Leibold