Gottesdienst-Erfahrungen

Gyde Botsch hatte sich für ihre Arbeit im Pfarrgemeinderat von Sankt Familia vorgenommen, den persönlichen Zugang zur Bibellese und zur Spiritualität in unserer Gemeinde zu unterstützen.

Spannend
Sie findet die Zeit, in der die gewohnten Gottesdienstformen gar nicht oder nur unter erheblichen Einschränkungen gefeiert werden können, eher spannend als beängstigend. Deshalb hat sie große Lust, die Erfahrungen mit ungewohnten, neuen Gottesdienstformen zu teilen und sich darüber auszutauschen.

Einladend
Gyde: "Ich möchte ausdrücklich dazu einladen, eigene Erfahrungen für die Gemeinde aufzuschreiben! So wie die Jünger und Jüngerinnen, die sich von den Begegnungen mit dem auferstandenen Jesus berichtet haben, dürfen wir uns gegenseitig froh machen und ermuntern, neue Wege des Gottesdienstes zu entdecken."

Wer immer sich daran beteiligen will, ist herzlich eingeladen,

Er wird dann zeitnah hier hinzugefügt. Kurze Beiträge werden bevorzugt;-)

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Die Texte im Überblick:

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Im Bergpark Wilhelmshöhe

Ich greife einen Gedanken aus Harald Fischers Predigt vom fünften Sonntag in der Osterzeit auf. Er sagte:

„Wir sind in ein Fasten hineingestellt, dass wir nicht gewollt haben. Es ist ein Verzicht auf die gewohnte Weise, unseren Glauben zu leben. Wir erleben nicht mehr die Eucharistiefeier und die Gemeinschaft der Glaubenden als stärkende Mitte. (...)

kassel bergpark 2web wilhelmshoehe c kassel marketing gmbhDiese schmerzliche Zeit, dieses Fasten zwingt uns, neu zu fragen, worauf es jetzt eigentlich ankommt, was die Herausforderung an uns ist und wie wir die Gegenwart Gottes unter diesen Umständen, in dieser Zeit suchen und entdecken können.“

Es ist wahr: dieses Fasten, das haben wir nicht gewollt. Es ist kein Fasten, sondern ein Hungern.
Nach Wochen der Entbehrung beginnen wir zu hungern und dürsten immer sehnlicher nach Gottes Nähe und Gerechtigkeit.

Menschen entwickeln aus dem Mangel heraus oft erstaunliches Potential. Und so, wie Hungernde beginnen, über Köstlichkeiten zu sprechen und sich damit trösten und aufrichten, möchte Ihnen und Euch von einem Gottesdienst erzählen:

Ich habe ihn mit zwei Freunden gefeiert. Wir haben uns am Rand des Wilhelmshöher Parks getroffen und sind plaudernd immer weiter hinein gelaufen. Schließlich erreichten wir eine abgelegene kleine Wiese, die von zwei winzigen Bächlein eingerahmt wurde. Wir lagerten uns in gebührendem Abstand zu einander, sozusagen auf grüner Aue an frischen Wassern...
Statt der wunderbaren Orgelmusik, die sonst für uns spielt, sangen uns die Vögel. Wie Säulen ragten die Buchen empor. Es war wirklich so kitschig!
Wir begannen mit dem Taize-Lied: "Herr, lass meine Gedanken sich sammeln zu dir". Dann sprach jeder ein persönliches Gebet und wir lasen reihum das Evangelium von den Emmaus-Jüngern.
Die Freunde hatten einen weiteren Text mitgebracht, der sich mit den Chancen befasste, die diese Zeit des Auf-Brechens für unsere Kirche und auch die Welt bedeutet.
Darüber haben wir unsere Gedanken ausgetauscht und anschließend mit dem Vaterunser und einem weiteren Lied unsere Andacht beendet. Das Fazit war: was für ein Gottesdienst! Es hätte nicht schöner sein können.

Vielleicht, das wünsche ich Ihnen und Euch, macht diese Erfahrung Mut, etwas Ähnliches oder auch ganz Anderes auszuprobieren. Ich würde mich freuen, auch mit Menschen zu feiern, die ich noch nicht so gut kenne! Jesus ist auferstanden. Er geht durch geschlossene Türen und stillt unseren Hunger im Brotbrechen. Wir werden ihn erkennen!

Text: Gyde Botsch - 12. Mai 2020

Foto: © Kassel-Marketing GmbH

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Wandern - Erfahrung von Gemeinschaft während Corona

Wir kennen uns aus der Gemeinde und zu viert wandern wir seit nun mehr sieben Wochen jeden Sonntag. Mal an der Werra, im Wolfhagener Land, im Naumburger Land, rund um Zierenberg, auf dem Dörnberg oder im Urwald nahe der Sababurg. Gegen zehn Uhr machen wir uns mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf den Weg. Angekommen in der Natur wandern wir gemütlich über (kleine) Berge, Wiesen und Felder, genießen die Ruhe, die Weite, den Wind, die Sonne, im April den Frühling und jetzt im Mai den beginnenden Sommer mit allem Grün, Rot, Gelb und Blau. Die Sonne wärmt schon am Vormittag, weiße Wölkchen sehen aus, als hätte sie jemand dort extra für uns platziert und strahlend blauer Himmel lässt uns sagen: „Das gibt’s ja gar nicht, so wunderbares Wetter“.

anja lipschik gottesdienst erfahrungen unter dem himmel 2020 05 21Oft kommen wir an einer kleinen Kirche oder Kapelle vorbei. Drinnen ist es kühl und die Ordnung, die wir vorfinden sowie die bemalten Steine, Karten oder Texte, berühren mich. Das alles hat jemand vorbereitet – wie schön. Manchmal lesen wir etwas oder singen ein Lied. Das ist zu viert nicht ganz einfach, denn normalerweise singen wir alle nur mit und nicht allein. Sich zu trauen das Gloria zu singen und sich selbst dabei zu hören, bedarf etwas Überwindung. Es zu viert als Kanon zu singen macht froh.

Immer wieder sehen wir Schafe und Ziegen, die unter den Bäumen grasen. Es sind Bilder, wie es sie vor zweitausend Jahren schon gab. Ach, was sind die Lämmer süß. Gegen Mittag machen wir Pause, essen und ruhen anschließend im Schatten der Bäume. Der Klangteppich von summenden Bienen, zwitschernden Vögeln und der Stille – da sind wir uns einig – ist wunderbar. Der Blick in die Täler und die Landschaft, die uns umgibt ist traumhaft. Manchmal gibt es ein Thema, welches sich entwickelt wie „Wasser“, „Heimat“ oder eine Geschichte, die einer mitbringt, darin tauchen wir ein und tauschen unsere Gedanken dazu aus. Kein Dach über uns, der Himmel beginnt bei uns, der Blick nach oben und um uns herum will sagen: „Wir haben Nichts, was wir festhalten können“. Wir sitzen am Bach oder auf einer Wiese, sehen Kühe, Rehe, Pferde (doch, es sind Pferde) und kleine Ortschaften - leider gibt es nirgendwo Kaffee.

Am Nachmittag kommen wir zurück und bleiben zusammen. Eine von uns hat etwas Essen vorbereitet. Aber erstmal auf dem Sofa ausruhen, die Beine ausstrecken, die Erschöpfung zulassen und den Gedanken nachhängen. Danach kommt Hunger und Durst, zuerst trinken wir Kaffee, dann helfen wir, das Essen zu zubereiten. Beim Essen werden wir so langsam wieder lebendig und ganz gesprächig. Schauen auf das Erlebte zurück und erzählen, was uns in den Sinn kommt, vom Hölzchen aufs Stöckchen sozusagen. Fast ist der Tag zu Ende.

Aber wir wollen noch gemeinsam das Evangelium lesen. Dafür wechseln wir vom Esstisch ins Wohnzimmer, werden noch mal ganz aufmerksam und ruhig. Mit viel Achtsamkeit und Wertschätzung teilen wir anschließend das „Wort“. „Denn ich bin bei euch“, „ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, „ich lasse euch nicht als Waisen zurück“ - wir lassen uns ein in dieses Wort, schenken und teilen etwas von uns mit den anderen.
Zum Abschluss singen wir gemeinsam ein Abendlied und müde verabschieden wir uns. Ja, unser Vertrauen und unsere Gewissheit wächst, dass auch am nächsten Sonntag, den wir gemeinsam verbringen wollen, unser Glaube ins Heute übertragen und verlebendigt wird. Es ist kühl, die Sonne geht unter und die Abendglocken läuten auf meinem kurzen Weg nach Hause. Ja, gleich kann ich die Wanderschuhe ausziehen. Ich spüre ganz viel Glück und bin so froh. DANKE für alles!1
1 Lob sei dir Christus.

Text und Foto: Anja Lipschik - 21. Mai 2020

 

 

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Ausgewählte (ältere) Texte zu anderen Themen:

Gedacht, gefühlt, geschrieben, gesprochen

In Sankt Familia wird von vielen Menschen Spannendes ins Gespräch gebracht, Überlegtes und Spontanes diskutiert, Tröstendes ausgesprochen und mit Leidenschaft Theologie betrieben. Was immer wir davon sammeln können, stellen wir Ihnen hier zur Verfügung.

Die Predigt-Sammlung wird wöchentlich aktualisiert (unser Archiv geht bis ins Jahr 2001).  Außerdem präsentieren wir Ihnen hier aktuelle Stellungnahmen zu Themen, die uns bewegen.

Die Übersicht:

Viel schöpferische Freude beim Lesen und Hören!


 

Im Für-Andere-Sein folgen wir schon Christus nach

Glaubenszeugnis von Tibor Pézsa am 21. und 22. März in den Sankt Familia-Gottesdiensten - hier auch zum [ Nachhören ] ...

Hier können Sie den Text des Evangeliums lesen ...

Wo ich aufgewachsen bin, in Niedersachsen, unweit von Bremen, da mussten wir radfahren, wenn wir Freunde treffen wollten, vier Kilometer, sechs, zwölf, ein Weg. Zurück nochmal soviel. Statt Smartphones gab es in dieser Zeit Verabredungen oder Überraschungen. Und wenn du mit einem Mädchen unterwegs bist, das hatte meine Mutter gesagt, dann begleitest du sie nach Hause. Wir, ich, radelten immer. Wir wurden 14 und wir wurden 16 und 18. Wir radelten.
Übers Land und in die Stadt. Durch die Felder und an der Landstraße.
Manchmal mit einem oder einer hinten auf dem Gepäckträger. Wir radelten in Gruppen, zu zweit, allein. Im Regen. Gegen den Wind. Mit dem Wind. Im Dunklen.

Diese Touren, diese Freundinnen und Freunde, ein Fahrrad nie weit entfernt - das war meine Jugend. Das Leben, so schien mir, das würde später kommen.
Irgendwann. Wie ein kaum angestrebtes, jedenfalls noch lange nicht erreichtes Ziel. Einmal, ich erlebte es damals in einem Moment, der so klar war und normal wie ein Platten oder ein schnarrendes Schutzblech, ich erinnere mich genau, ich saß - wo sonst - auf dem Rad, da kam mir der Gedanke: Ich kann ein guter Mensch werden oder ein böser. Beides schien mir möglich, daher einer Entscheidung zu bedürfen.

Ich empfand die Möglichkeit, mich ohne Druck, in aller Stille bei mir entscheiden zu können, zu wählen, als ehrenvoll.

Ich weiß nicht genau, wann ich mich der Vermutung geöffnet habe, dass das Leben unbemerkt schon begonnen haben könnte. Manches spricht dafür. Manches aber auch dagegen. Und das hat sehr wahrscheinlich sehr viel damit zu tun, ob wir es zulassen oder uns dagegen sperren.
Als ich vor einigen Jahren zehn Tage und Nächte lang den Tod meiner geliebten Frau gewärtigen musste, der Mutter meiner drei zu dieser Zeit noch kleinen Söhne, zerrissen in dem Bewusstsein, weder ihr noch ihnen so helfen zu können, wie sie es gebraucht hätten, zu schweigen von mir, da hatte ich ein nie früher, nie später so intensiv erlebtes Gefühl von Wahrheit, von Für- und Ineinander-Sein, von intensivster Gegenwart, donnernder Stille, von Leben. Mit meinen Lieben starb ich in ein Anderes hinein, mit ihnen wurde ich aber auch wieder daraus geboren. Als meine Frau ihre Augen vierzig Tage nach dem Unfall wieder öffnete - ja, es waren genau vierzig, und das war Ostern - und als sie uns zum zweiten Mal geschenkt wurde, da empfand ich das neben einigen anderen Gefühlen wie einen Tausch. Schmerzhaft, aber alles erneuernd. Ich schnappte meine Frau und meine Kinder wie ein ausgehungerter Mundräuber Äpfel von einem Stand auf dem Wochenmarkt, ließ alles andere hinter mir, die unerträgliche Wahrheit, das unerträgliche Leben, die unerträgliche Stille, und rannte und rannte und rannte davon. Aber es war kein Diebstahl. Es war ein Geschenk. Es war eine Wandlung. Wir waren Weizenkörner, die sterben mussten, um zu leben.

Nichts davon will ich wieder erleben.
Aber auch nichts davon will ich missen.

Können wir gut sein oder böse, können wir sein, ohne zu vergehen wie ein Weizenkorn, um anders, in anderen, für andere vielfach neu und anders wieder aufzuerstehen? Können wir leben ohne Sehnsucht, ohne Halt, ohne Berührung, ohne Beziehung, ohne ins Leben hineingeliebt geworden zu sein und uns in ein neues hineinzulieben? Leben und vergehen wir nicht immer - für? Wir könnten es vielleicht anders, einsam, versuchen. Aber auch wollen? Aber auch können?
Und wozu? Ein guter oder ein böser Mensch werden. Noch bevor ich damals vom Rad gestiegen war, traf ich meine Entscheidung. Jedenfalls mit Blick auf das echte Leben, das – wie ich glaubte - ja noch lange nicht begonnen hatte. Ich war scheinbar, so fühlte ich mich, wie ein Weizenkorn in der Kornkammer. Geerntet irgendwann von irgendwem, aber wie mir schien, zwischengelagert, nicht gesät. Es gab noch lange keinen Grund für mich zu sterben. Und keinen zu leben.

Ich wartete. Glaubte ich.

Heute, viele Jahre, viel gelebtes Leben später, meine ich, dass ich mich damals täuschte. Es war gar nicht meine Entscheidung. Die war schon längst mit mir und für mich getroffen worden. Heute meine ich, dass ich, vielleicht wir alle, gar nicht umhin kommen, Weizenkorn zu sein, von Anfang an, dass Jesus mit dem Bild vom Weizenkorn, das sterben muss, um zu leben, nur beschrieb, was ist. Dass wir Tag für Tag, Stunde für Stunde, Entscheidungen treffen. Im Tun, im Unterlassen. Im Wissen, ahnungslos. Sie mögen gut sein, böse, richtig oder falsch. Aber im Für-Andere-Sein folgen wir schon Christus nach. Der weit verbreitete Eindruck, dass wir es nicht tun oder nicht schaffen, betrifft wohl eher unseren Willen, unseren Fleiß, unsere Entschiedenheit, unsere Sichtbarkeit. Aber wir tun es mit unseren kleinen und großen Möglichkeiten und Herausforderungen - mit jeder Umarmung, mit jedem Blick, mit jedem Atemzug. Das können wir tun: Sein Für-uns-Sein annehmen und weitergeben. Ja sagen, Ja, ich will.

Gott helfe uns.

Amen.

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Lassen Sie uns über die Freude am Evangelium sprechen!

Glaubenszeugnis von Tibor Pézsa am 15. und 16. März in den Sankt Familia-Gottesdiensten)

Lassen Sie uns über die Freude am Evangelium sprechen! „Evangelii Gaudium“ – das ist der Titel des Buches, welches Papst Franziskus im November veröffentlicht hat. Es ist ein Buch wie köstlicher, süßer Sirup, voller Substanz, Geschmack und Fülle. Darin ist es ganz ähnlich wie das Buch der Bücher, auf das es in einem fort verweist:

die Bibel.

Leute, trinkt den Sirup nicht pur! Nehmt euch Zeit, lasst euch darauf ein. Gießt etwas Wasser drauf. So habt ihr mehr vom Sirup.

„Evangelii Gaudium“ wird zu Recht als eine Art Regierungserklärung dieses Papstes gesehen. Es ist ein einziger Aufruf an jeden Christen: Erneuere noch heute deine persönliche Begegnung mit Jesus Christus. Lass dich noch heute von seiner frohen Botschaft verändern.

Noch heute. - - -

Ich möchte jetzt Wasser auf eine kurze Passage aus „Evangelii Gaudium“ gießen. Eigentlich nur auf einen Halbsatz, ein sprachliches Bild in diesem Buch.

Franziskus benutzt dieses Bild im Zusammenhang mit einer Warnung. Er warnt vor einer gleichsam privaten Spiritualität. Er meint damit eine Art von Gläubigkeit, die nach außen, aber auch nach innen vor einem selbst ganz wunderbar erscheinen kann. Sie lässt aber das vermissen, was die Botschaft zu einer frohen Botschaft macht:

Und jetzt kommt das sprachliche Bild. Franziskus schreibt:

„Sie wollen lieber Generäle von geschlagenen Heeren sein, als einfache Soldaten in einer Schwadron, die weiterkämpft.“

Ein bisschen Wasser, bitte.

Der Papst meint damit Diener der Kirche, unserer Kirche. Ihre Ruhmsucht. Unsere Ruhmsucht. Eine schaumäßige, selbstzweckhafte Pflege
– der Liturgie,
– der Lehre der Kirche,
– ihres Ansehens,
– der Kirche als Organisation,
– unseres Glaubens ohne Hände zum Anfassen und Füße zum Hingehen.

Sitzen Sie gut?

Franziskus schreibt – ich zitiere: „Gott befreie uns von einer weltlichen Kirche unter spirituellen oder pastoralen Drapierungen.“

„Dagegen“, schreibt er weiter, hilft nur – Zitat – „die reine Luft des Heiligen Geistes, der uns davon befreit, um uns selbst zu kreisen, verborgen in einem religiösen Anschein über gottloser Leere. – Lassen wir uns das Evangelium nicht nehmen!“

Mit dem Evangelium gegen die Kirche? Aber sind wir das nicht alle? - - -

All das erinnert an eine Stelle im Lukas-Evangelium (15,7), die Franziskus anderswo auch zitiert: Es herrscht mehr Freude im Himmel über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte, die Umkehr nicht nötig haben.

99 Gerechte, 99 Generäle, alles im Griff, eindrucksvoll geordnet und Orden-behangen, immer brav zur Arbeit gegangen, Auto gewaschen, Haus und Miete abbezahlt, alles richtig gemacht – nur nicht das Richtige: General eines geschlagenen Heeres.

Wir verlieren die Schlacht, wenn wir uns mit dem „Man-müsste-mal“ zufrieden geben, mit dem „Verstehe-ich-auch-nicht-warum-da-niemand-was-tut“. Und wenn wir nicht ringen für das gute, das richtige, das bessere Leben im Schweiße unseres Angesichts. Kämpfen wir? Bemühen wir uns?

Auf! Raus an die Ränder! Raus ins aufreibende Leben, in die Beständigkeit mühevoller Arbeit, raus in den Kontakt mit den leidenden, den bedürftigen Menschen! Lassen wir die Armen nie allein!

Das ist Franziskus.

Aber wer ist arm? Wer ist leidend? Wer ist bedürftig? Wir brauchen dafür keinen Plan, keine Definition. Wir brauchen keine Kriterien wie struppige Haare, Drogen und obdachlos. Gott begegnet uns in allen, im Kind, den Eltern. Er ist in unserer Schwester, dem Bruder, dem Kollegen, dem Freund, dem Nachbarn.

Für Franziskus geht es darum, im Nächsten Gott zu lieben, nicht – wie er an einer Stelle schreibt – um eine Art „Nächstenliebe à la carte“. Es geht darum, im Nächsten wie in uns selbst Gott zu lieben, der in der Welt herrscht.

Franziskus versteht sich offensichtlich als Beispiel, nicht als Rechthaber. So ist auch seine Warnung nur konsequent: Reformen und Dezentralisierung der Kirche dürfen kein Selbstzweck sein. Sie sollen münden in einen sich stets erneuernden Zustand der Mission jedes einzelnen Glaubenden.

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Viele Gläubige sind in den vergangenen Jahren von der Kirche enttäuscht worden. Der französische Theologe Alfred Loisy hat dies einmal so gesagt: „Jesus hat das Reich Gottes verkündet – gekommen ist die Kirche.”

Franziskus ist gekommen, dieses berühmte Wort als Ausrede zu entlarven. Seine, unsere Kirche soll an nichts anderes erinnern als an Jesus Christus, ihren Glutkern. Alles Weitere liegt bei jedem einzelnen von uns.

Geben wir uns nie geschlagen.

Gott helfe uns.

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Martin Luther - längst katholisch? Oder: Wie lutherisch sind die Katholiken?

Vortrag von Otto Hermann Pesch, Universität Hamburg, am 26. Mai 2010 im Regionalhaus Adolph Kolping, Kassel)

I. EIN PERSÖNLICHER EINSTIEG

1. Luther für einen Kölner

Darf es zu Beginn ein wenig Autobiographie sein? Ich bin in Köln geboren. Und einem geborenen Kölner – selbst wenn er (wie ich) kein fanatischer Karnevalsjeck ist – wird nicht an der Wiege gesungen, sich für Luther zu interessieren. Überhaupt hält der Kölner die protestantische Kirche für eine Kümmerform des Christentums, schon allein deswegen, weil sie keinen Karneval kennt. Es lag darum gar nicht nahe, ist vielmehr eine Folge von Zufällen, dass ich dahin kam, Luther zu studieren und gar in die (inzwischen leider aussterbende) Art der „katholischen Lutherforscher“ aufzusteigen. Die anekdotenreiche Geschichte, wie es dahin kam, kann ich jetzt hier nicht erzählen. Jedenfalls wurde mir die Anregung vermittelt, eine Untersuchung als Doktorarbeit zu beginnen, die die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders bei den beiden Kronzeugen katholischer und reformatorischer Theologie, Thomas von Aquin und Martin Luther unter der Leitfrage vergleichen sollte, ob die beiderseitige Rechtfertigungslehre auf dem heutigen Stand der theologischen Forschung noch als kirchentrennend beurteilt werden müsse. Der äußere Anlass dieser Anregung war die 1957 erschienene Doktorarbeit des jungen Hans Küng über die Rechtfertigungslehre bei Karl Barth und auf dem Konzil von Trient, die mit dem Urteil endet: Was die Rechtfertigungslehre betrifft, so besteht für Karl Barth kein Grund zur Kirchentrennung.
So begann ich 1958 mit der Erarbeitung der Rechtfertigungslehre bei Thomas und ab 1960 in München unter der Betreuung meines Doktorvaters Heinrich Fries, eines Pioniers ökumenischer Theologie, die Arbeit an Luther im Vergleich mit Thomas. Natürlich nicht als rein historische Arbeit, denn Luther hat Thomas so gut wie gar nicht im Original gelesen. Vielmehr als systematisch-theologische Arbeit, insofern sich bis heute katholische und evangelische Theologie jeweils für ihre Tradition mit Vorzug auf Thomas und Luther berufen.
Nun saß ich also über Luther und der „Sekundärliteratur“, den Arbeiten zur historischen Lutherforschung zuzüglich deren Verarbeitung bei den damals führenden evangelischen Theologen – Paul Althaus, Ernst Wolf, Gerhard Ebeling, Peter Brunner, um nur einige Namen zu nennen - und kam nicht weiter. Missverständnisse und wechselseitige Fehlurteile klären – das war immer wieder rasch getan. Aber ich fand keinen Schlüssel, mittels dessen sich mir erschloss, warum Luther gerade so und nicht anders dachte und mit der mittelalterlichen theologischen Tradition nichts anfangen konnte, ja sogar nicht selten mit ungehemmter Polemik gegen sie argumentierte, obwohl man als Thomaskenner nur auf totales Fehlverständnis erkennen konnte.


2. „Existenzielle“ Theologie

In diesem Zusammenhang wurde für mich das Werk des lutherischen Theologen Albrecht Peters über „Glaube und Werk. Luthers Rechtfertigungslehre im Lichte der Heiligen Schrift“ (Berlin – Hamburg 1962) geradezu zu einem Schlüsselerlebnis. Bald auch lernten wir uns persönlich kennen, und es kam zu einem lebendigen Austausch über Luther und seine ökumenische Bedeutung und am Ende zu unserem gemeinsamen Buch „Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung“ (Darmstadt 1981, 3.Auflage 1997, leider heute vergriffen). Peters gab mir ein Stichwort vor, das mich plötzlich Luther verstehen ließ: Luther treibt „existenzielle“ Theologie, das heißt: Theologie aus der Selbstverantwortung des Menschen vor Gott, aus der „Glaubensbewegung“ heraus. Eine theologische Aussage muss nicht nur „richtig“, „schlüssig“ sein und der biblischen Vorgabe entsprechen. Sie muss auch vom Menschen vor Gott ausgesprochen, sozusagen ins Gebet transformiert werden können - sonst ist sie illegitim, ja in einem tiefen Sinne falsch. Was das bedeutet, erläutert Luther selbst in einem fiktiven Gebet, das er 1521 in einer Schrift gegen den Löwener Theologen Jacobus Latomus formuliert. Er fordert den Latomus auf, einmal folgendes Gebet zu versuchen:
„Siehe, Herr Gott, dieses gute Werk habe ich getan mit Hilfe deiner Gnade, es ist darin kein Fehl oder irgendeine Sünde, bedarf auch nicht deines verzeihenden Erbarmens, bitte auch nicht darum, sondern will, dass du es richtest nach deinem wahrhaftigen und strengsten Gericht. Denn in diesem (meinem Werke) kann ich mich vor dir rühmen, dass auch du es nicht verdammen kannst, denn du bist gerecht und wahrhaftig; wenn du also nicht dich selbst verleugnest, wirst du es nicht verdammen, des bin ich gewiss, hier tut nicht mehr Barmherzigkeit not, die da Schuld in diesem Werk vergibt, wie dein Gebet es lehrt – die ist hier ausgeschlossen, und nur die Gerechtigkeit (ist am Platze), die (das gute Werk) krönt“ (Weimarer Ausgabe Bd. 8, 79,21ff.; Übersetzung von Robert Frick in der Münchener Ausgabe, Erg.-Bd. 6). Latomus hat es für möglich gehalten, dass ein Mensch in der Kraft der Gnade Gottes ein reines, von aller Sünde freies gutes Werk vollbringt – alles andere wäre Zweifel an der Kraft der Gnade Gottes. Luther zieht daraus die Konsequenz, dann so beten zu müssen, wie zitiert. Und er fährt fort: „Schauderst du, schwitzst du, Latomus?“
Hier wird wohl deutlich, worauf es Luther ankommt. Ich kann, wie Latomus als gelehrter Anhänger des Thomas, eine ganz korrekte Lehre von der Kraft der Gnade zum guten Werk entwickeln. Aber könnte ich je damit vor Gott treten und sagen: „Nun musst du aber auch dieses von dir selbst begründete Werk anerkennen, wenn du nicht mit dir selbst in Widerspruch geraten willst!“? Ein anderes Beispiel: Ich kann eine ganz und gar korrekte, von jedem Verdacht der „Werkgerechtigkeit“ freie Lehre vom „Verdienst“ entwickeln – wie es die großen Theologen von Augustinus über Thomas bis einschließlich die Väter des Konzils von Trient (1545-1563) getan haben. Aber kann ich jemals vor Gott hintreten und sagen: „Ich habe Verdienste vor dir erworben, und nun belohne sie nach Recht und Gerechtigkeit!“? Wer diese Frage verneint, hat damit im Grunde die ganze Lehre Luthers von der Rechtfertigung des Sünders akzeptiert, denn diese können wir uns mit keinen noch so guten Werk „verdienen“, sondern nur schenken lassen.
Den Gegensatz zu dieser „existenziellen“, also die persönliche „Existenz“ in die theologische Aussage einbeziehenden Theologie sieht der genannte Albrecht Peters in der, so wörtlich, „objektivierenden“ Theologie der katholischen Tradition. In einer solchen Theologie werde das Geschehen zwischen Gott und Mensch gleichsam von außen angeschaut und beschrieben, geradezu, so wörtlich, „von einem neutralen Ort aus“ und also von außerhalb der Glaubensbewegung. Ich halte das für ein Missverständnis. Die katholische Tradition – ich denke wieder besonders an Thomas – ist in der Tat „objektivierend“, aber nicht „ver-objektivierend im Sinne einer Sicht „vom neutralen Ort“ aus. Es ist eine andere Art von „existenzieller“ Theologie, ja eine andere Art von Spiritualität. Man könnte sie „selbstvergessen“ nennen – allein daran interessiert, auf der Basis des Glaubens die Werke Gottes im Denken zu bewundern, sozusagen Gott den Gottesdienst des Denkens und Verstehens darzubringen. Aber das ist eine andere Geschichte, die wir jetzt hier nicht weiter verfolgen können.
Jedenfalls, mit Hilfe dieses Schlüssels „existenzielle Theologie“ gerade im Unterschied zu Thomas konnte ich nun Luther verstehen. Und vor allem: Jetzt begriff ich auch, warum er mir plötzlich so sympathisch wurde. Ich erkannte in ihm viel von dem wieder, was auch uns moderne Christen bewegt. Auch wir können ja nicht mehr „selbstvergessen“ Theologie treiben. Wir fragen ganz selbstverständlich, ob katholisch oder evangelisch, wenn wir ein theologisches Statement hören: Was sagt mir das in meine persönliche Glaubensexistenz hinein? Was hilft es mir auf meinem persönlichen Glaubensweg mitten in allen Anfechtungen der modernen Welt? Kann ich mit solchen Worten auch beten? Wenn nein, dann schließen wir: „theologischer Elfenbeinturm“ – mögen die Theologen weiter darüber streiten, uns geht das nichts an!
Ich konnte nicht anders als zu dem Urteil kommen: Eine solche „existenzielle“ Theologie hat ihr Recht in der Kirche – zumal sie auch Vorbilder in der Tradition hat! Aber selbstverständlich hat auch eine solche selbstvergessene Theologie wie die des Thomas ihr Recht. Man kann demnach nicht Lutheraner und Thomist mit ein und demselben Kopf und Herzen sein. Aber man kann einsehen, dass beide „Typen“ von Theologie ihr Recht in der Kirche haben. So kam ich zu dem Endergebnis meiner Doktorarbeit: Die Rechtfertigungslehre Luthers und des Thomas sind auch nach Klärung aller Missverständnisse nicht einfach auf einen Nenner zu bringen, sind auf der Ebene der Begriffe und Worte nicht in einen „Konsens“ zu überführen. Aber wo sie richtig verstanden werden, besteht kein Anlass zum „Anathema“, zur gegenseitigen Verwerfung. Die Kirche muss und kann Raum für beide haben.


II. MARTIN LUTHER – LÄNGST „KATHOLISCH“?

Aufgrund der geschilderten Entwicklung meines theologischen Urteils über Luther bin ich daher immer bei dem Satz geblieben, mit dem ich am 17. Juni 1964 um 0.49 Uhr solch ein Datum merkt man sich! - das handschriftliche Manuskript meiner Doktorarbeit abgeschlossen habe: „Die katholische Theologie wird sich fragen lassen müssen, ob sie Luthers Theologie kampflos der evangelischen Theologie überlassen will.“
Man hat mich daraufhin in verschiedensten Zusammenhängen gern gefragt, ob ich denn „Luther katholisch machen“ wolle. Meist neugierig auf bessere Einsichten, die alte Klischees vom „rebellischen Mönch“ zu überwinden helfen sollten. Manchmal aber auch mit drohendem Unterton. So etwa, wenn der große Erforscher des Konzils von Trient, Hubert Jedin, 1967 (450 Jahre Ablassthesen!) in einem Vortrag zur ökumenischen Lage formulierte: „Wer aber den ganzen Luther katholisch machen will, wird selber Lutheraner.“ Gemeint war damals ich selbst! Umgekehrt wurden und werden im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 2017 schon lutherische Stimmen laut, die sich dagegen verwahren, Luther der evangelischen Kirche „zu enteignen“.
Nun ist dies allerdings eine schiefe Fragestellung. Was heißt das denn, Luther „katholisch“ zu machen? Man kann gewiss zeigen – und das ist nicht zuletzt ein Ertrag der katholischen historischen Lutherforschung -, dass Luther damals und noch bis in seine letzten Jahre keine Lehren vertreten hat, die im Rahmen der damaligen Theologie in der Vielfalt ihrer Schulen und Tendenzen eindeutig irrgläubig und darum zu verurteilen gewesen wären. Das gilt insbesondere für die Anfangsjahre bis zu seiner Exkommunikation und der Verhängung der Reichsacht 1521. Von den 41 „Irrtümer(n) Martin Luthers“, die in der Bulle Exsurge Domine aufgelistet werden, mit der ihm im Falle des verweigerten Widerrufs die Exkommunikation angedroht wird, sind heute bestenfalls ganze drei noch Gegenstand einer Diskussion -, aber auch sie keineswegs eindeutig häretisch, sondern Gegenstand einer offenen Frage. Man kann also sagen: Luther war damals „katholisch“ – wenn man, anachronistisch, das Wort „katholisch“ damals schon im Sinne einer Konfessionsbezeichnung verwenden will. Erst recht kann man ihn nicht „katholisch“ machen in dem Sinne, wie das Wort heute gemeint ist, nämlich in Bezug auf die heutige römisch-katholische Kirche. Denn diese und ihre Theologie unterscheiden sich ja sehr von der Situation im 16. Jahrhundert – und wer das bestreiten wollte, könnte das nur aus schierer Unkenntnis tun und müsste zudem unterstellen, dass Kirche und Theologie niemals im Laufe der Zeit auch etwas dazu lernen können. Sinnvoll ist also nicht die Frage: Martin Luther – längst „katholisch“? Sinnvoll ist aber eine andere Frage: Wie „lutherisch“ sind heute die Katholiken, möglicherweise ohne es zu wissen? In diesem Sinne drehe ich die Frage um: Wie „lutherisch“ ist heute die katholische Kirche, sind heute die katholischen Christen? Wie „lutherisch“ dürfen sie sein? Dafür gebe ich nun einfach einige Beispiele, so knapp wie möglich. Solche Knappheit ist aber gerade deshalb möglich, weil alles schon so selbstverständlich ist.


1. Wort Gottes, kirchliche Lehre und der Glaube

Früher – so lange ist das noch nicht her – verstanden Katholiken unter „Wort Gottes“, dass Gott uns durch sein Wort belehrt, uns „informiert“, „instruiert“. Natürlich über sich selbst, über sein Wesen, seine Drei-Einheit, aber eben darum auch über sein Handeln an der Welt und an den Menschen. Er belehrt uns darüber, dass er der Schöpfer ist; dass er uns seine Gnade zuwendet und unsere Sünde vergibt und uns zum ewigen Leben beruft. Und dass er zu diesem Zwecke durch den Heiligen Geist die Kirche zusammenruft und ihr die Heilsmittel schenkt – die sieben Sakramente und die hierarchische Verfassung. Dies alles ist zusammengefasst in dem Begriff „Offenbarung“, der denn auch als Wechselwort für „Wort Gottes“ gebraucht wurde – zum Beispiel in den Handbüchern der Fundamentaltheologie oder in der jeweiligen Einleitung in den Dogmatik-Handbüchern: Theologie, Dogmatik, so sagt man dann, hat als ihre Grundlage „die Offenbarung“ oder „das Wort Gottes“, auf das alles, was sie zu sagen hat, zurück bezogen sein muss. Man spricht in diesem Zusammenhang gern von Offenbarung als „Instruktion“, vom „Instruktionsmodell“ in der Arbeit mit dem Offenbarungsbegriff beziehungsweise mit dem Begriff vom „Worte Gottes“.
Zu finden ist dieses „informierende“ Wort Gottes natürlich in der Bibel. In ganz alten Zeiten waren Bibel und Wort Gottes identisch, die Bibel war Wort für Wort Gottes Wort – übrigens auch noch bei Luther. Aber auch der zunehmende Einbezug der historisch-kritischen Methode der Bibelwissenschaft hat dies zunächst noch nicht grundlegend verändert: Um zu wissen, worüber das Wort Gottes, „die Offenbarung“ uns „informiert“, muss ich gegebenenfalls mit den Methoden historisch-kritischer Fragestellung herausfinden, was der biblische Autor als gewissermaßen „Sekretär“ Gottes hat sagen wollen und was nicht.
Da nun die Bibel – auch trotz historisch-kritischer Exegese – nicht immer eindeutig ist, ist der letzte Garant der Wahrheit des Wortes Gottes und der uns darin gegebenen verbindlichen Belehrung die kirchliche Lehre. Glauben heißt daher, diesem Wort Gottes zustimmen, dessen Wahrheit uns die Bibel in der kirchlichen Auslegung verbürgt. Vollkommen konsequent lautet daher die ausdrücklich auf das Erste Vatikanische Konzil zurückgehende Wesensbestimmung des Glaubens, die die Älteren unter uns noch im Religionsunterricht gelernt haben: „Glauben heißt: alles fest für wahr halten, was Gott, der nicht lügen und trügen kann, geoffenbart hat und durch die Kirche zu glauben vorlegt.“
Und heute? Spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil – aber auf der Grundlage der theologischen Vorarbeit in den Jahrzehnten davor! – bedeuten „Wort Gottes“ und „Offenbarung“ nicht mehr „Instruktion“ über göttliche Wahrheiten oder dies höchstens in Konsequenz. Grundlegend vielmehr ist „die Offenbarung“ die Selbsterschließung, ja die „Selbstmitteilung“ Gottes in geschichtlichen Ereignissen, die für jeweils neue Generationen (und Kulturen) weitererzählt und interpretiert werden müssen – natürlich auch durch die kirchliche Lehre, die aber eben deshalb nicht mehr nur theoretische Erläuterung, sondern Erschließung und Einladung in den Glauben sein soll und will. Die Kunde davon ist uns ursprünglich aufbewahrt in der Heiligen Schrift. Das Wort Gottes finden wir nur in ihr, aber der Bibeltext als solcher ist nicht mehr einfach identisch mit diesem Wort Gottes. Und der Glaube ist nicht mehr nur Zustimmung zur Wahrheit göttlicher Informationen, gefasst in verbindlichen Sätzen, sondern selbst Hingabe des ganzen Menschen mit Vernunft und Willen an den sich uns mitteilenden Gott (Zweites Vatikanisches Konzil, Offenbarungskonstitution, Art. 5). Oder jetzt ganz lutherisch gesagt: Wort Gottes ist zuerst und zuletzt Zuspruch, und Glaube heißt: sich auf diesen Zuspruch, der der Zuspruch der Vergebung, der Gnade und der Gemeinschaft ist, felsenfest verlassen, mitten in allen Anfechtungen. Und das ist es auch, was Katholiken heute hören wollen, wenn sie ihr Ohr für das Wort Gottes öffnen: nicht zuerst Belehrung, sondern Kunde von dem, worauf man sich verlassen, woran man sich halten kann im Leben und Sterben. Und nur, sofern es darum geht, muss und kann anschließend auch nach der theoretischen Wahrheit dieses Wortes gefragt werden – wie auch nicht anders bei Luther. In Sachen „Wort Gottes“ und „Glaube“ sind wir Katholiken, wenn es zum Schwur kommt, alle gute Lutheraner!


2. Die Kirche

Früher – so lange ist das noch nicht her – waren „die Kirche“ die „Hierarchie“: der Papst, die Bischöfe und die Priester und, wenn auch schon abgeschwächt, die Ordensleute. Die „Laien“ hatten „Anteil“ an der Kirche. Keine Rede vom „Priestertum aller Getauften“! Das spiegelt sich in den Bestimmungen des alten Kirchenrechts von 1917: Die Laien sind Objekte der Kirche. Sie haben das Recht, von den geistlichen Hirten geistliche Gaben zu erwarten und zu empfangen, also die Sakramente und die religiöse Unterweisung. Ansonsten kannte das Kirchenrecht für die Laien nur Verbote: keine Amtsanmaßung, keine Klerikerkleidung, usw. Es war schon ein großer Fortschritt, dass dieses rein juridische Kirchenbild seit den 20er Jahren und bekräftigt durch die Kirchen-Enzyklika Papst Pius’ XII. Mystici Corporis theologisch überwunden wurde durch die Wesensbestimmung der Kirche als „Leib Christi“. Aber ansonsten blieb es auch jetzt bei dem klerikalen Kirchenbild. Dieses hat übrigens seine Wurzeln in der spätmittelalterlichen Theologie und konnte so damals als Tradition gegen Luther und die Reformatoren ins Treffen geführt werden.
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist das alles anders – natürlich wieder aufgrund der reichhaltigen Vorarbeit der Theologie in den Jahrzehnten davor. Erstmalig in einem lehramtlichen Dokument wird das gemeinsame Priestertum aller Glaubenden herausgestellt (Offenbarungskonstitution Art. 10). Vor allem aber: Das Wesen der Kirche wird bestimmt als „Volk Gottes“ (Kirchenkonstitution Art. 9) – und „Leib Christi“ bekommt, mit Respekt vor der Enzyklika Pius’ XII., einen eigenen Artikel (Art. 7) in der Kirchenkonstitution, wird aber eindeutig unter die Bilder für die Kirche eingereiht (Art. 6), während „Volk Gottes“ als Sachbegriff in den Vordergrund rückt mit der ausdrücklichen Begründung in den Verhandlungen, alle Christen seien doch, bevor einige von ihnen Amtsträger würden, Christen und daher „Volk Gottes“, und keinesfalls sei dieser Begriff auf die so genanten „Volksangehörigen“, die „Laien“ (als Mitglieder des laos theou) beschränkt. Die Folge: Wenn sich eines aus den Neuaufbrüchen des Konzils dem Bewusstsein der Kirchenmitglieder eingegraben hat, dann dies: Sie sind die Kirche, und sie haben nicht nur Anteil an ihr. Im schönsten Einklang mit Luther, der schon 1539 in „Von den Konziliis und Kirchen“ formuliert hat: „Gern haben sie’s, dass man sie für die Kirche halte, wie Papst, Kardinäle, Bischöfe …“ (Weimarer Ausgabe Bd. 50, 624,9). Und dagegen setzte: die Kirche sei „ein christlich heilig Volk, dass da gläubt an Christum“, und „… die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören.“ (Weimarer Ausgabe Bd. 50, 250,1 = Bekenntnisschriften 459,20; Weimarer Ausgabe Bd. 50, 626,29).


3. Die Sakramente

Früher – und es ist noch nicht so lange her – waren die Sakramente im landläufigen Sinne „Heilsmittel“ für die Gebrechen der jeweiligen Lebenslagen, boshaft gesagt: aus einer himmlischen Apotheke: die Taufe für die Behebung der „Erbsünde“, die Buße für die Behebung der späteren persönlichen Sünden; die Eucharistie für die Stärkung im tagtäglichen Kampf im gläubigen Alltag; die Firmung für die Kraft des Heiligen Geistes im täglichen Kampf gegen die Sünde und für ein kraftvolles Zeugnis in der Welt; die „Letzte Ölung“ zur Vorbereitung auf den letzten Weg; die Priesterweihe für die Zurüstung zum Dienst an und in der Kirche; und die Ehe – faktisch, aber fälschlich verwechselt mit der kirchlichen Trauung – als Kraft für die Bewältigung des christlichen Alltags in Ehe und Familie.
Aber seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wird in der katholischen Dogmatik eine neue Sicht auf die Sakramente wirksam: Die Sakramente sind konzentrierte Verkündigungs-Handlungen, und zwar lernt man dies nicht zuletzt aufgrund einer genaueren Lektüre der großen mittelalterlichen Tradition (ich konnte mir das in meiner Doktorarbeit schon wirksam zunutze machen!). Und wieder zeigt sich eine Brücke zu Luther, der das Sakrament – generell, aber besonders mit Blick auf das Abendmahl – als „aktuelles Wort“ versteht, wobei alles auf die in der Handlung zugesprochene Verheißung der Vergebung der Sünde ankommt. Ungeachtet der Sonderprobleme – „Gültigkeit“ des Amtes, „wirkliche Gegenwart Christi“ unter den eucharistischen Gaben, „Messopfer“ (siehe 4.), Papsttum (siehe 7.) und andere – sind wir hier wieder als gute Katholiken auf der Linie Luthers: Katholiken feiern die Eucharistie und empfangen die Kommunion in dem Bewusstsein, hier nicht einem magischen Ritus zuzusehen, bei dem nach der alten Liturgie durch ein Zeichen der von den Ministranten bedienten Schelle der Vollzug der Konsekration angezeigt wurde. Vielmehr wohnen sie dem vergegenwärtigenden Gedächtnis des Leidens und der Auferstehung Jesu Christi bei, das in der Akklamation seinen Ausdruck findet: „Deinen Tod, o Herr, verkünden [!] wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“


4. Das „Messopfer“

Mit dem soeben Gesagten ist die Hälfte des alten Streitthemas „Messopfer“ schon bereinigt. Der evangelische Theologe Peter Brunner, der Lehrer von Albrecht Peters, hat noch in den 50er Jahren erklärt, trotz aller Fortschritte bildeten drei Themen noch vorerst unübersteigbare Hürden vor einem Konsens mit der römisch-katholischen Kirche: das Erste Vatikanische Konzil mit dem Papst-Dogma, die Marienverehrung und eben die Lehre vom „Messopfer“. Die Vorstellung dahinter ist diese: „Messopfer“ heißt: der Priester – und nur er! – bewirkt, gewiss als „Instrument“ Christi, aber in Wahrheit, durch die „Konsekration“, also die Einsetzungsworte die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi auf dem Altar unter den Gestalten von Brot und Wein. Anschließend kann er den so gegenwärtigen Christus Gott dem Vater „darbringen“, eben „opfern“ und ihn daraufhin den Gläubigen als „Opfermahl“ darreichen. Manche Formulierungen des alten römischen Kanons – des ersten Hochgebetes unter den vier offiziellen in der erneuerten Liturgie -, aber auch in den neuen Hochgebeten scheinen diese Vorstellung zu stützen – immer noch. Dieses „Messopfer“ kann man „darbringen“ zur Sühne für die (eigenen und fremden) Sünden, aber auch für alle erdenklichen Anliegen anderer Art. Und so ergab sich die jahrhundertealte Praxis der „bestellten“ Messe: Man gibt ein (bescheidenes) „Mess-Stipendium“, dafür verpflichtet sich der Priester, das „Messopfer darzubringen“ in dem besonderen Anliegen des Spenders: für das kranke Kind, für das Wohlergehen der Kinder, für beruflichen Erfolg, für den glücklichen Ausgang eines Examens, für eine glückliche Heimkehr von einer gefährlichen Reise, und nicht zuletzt für die verstorbenen Angehörigen, die man noch im „Fegfeuer“ vermutet. Und da das Messopfer durch seine Opfergabe unendlichen Wert hat, „wirkt“ es sicherer im Sinne des Anliegens als jedes noch so inbrünstige Bittgebet.
Diese Vorstellung vom Messopfer hatte Luther vor sich, als er in seiner kritischen Sakramentsschrift De captivitate Babylonica Ecclesiae („Von dem babylonischen Gefängnis der Kirche“) von 1520 diese Lehre vom Messopfer als die schlimmste aller Gefangenschaften bezeichnet, in die das Sakrament geraten war. Wobei man sich das, was ich gerade geschildert habe, noch vielfach umfangreicher vorstellen muss im Vergleich zur Situation vor Beginn des ökumenischen Gespräches im 20. Jahrhundert. Wegen des überragenden Wertes des „Messopfers“ konnte man ja nicht Messen genug feiern! Ganze reichhaltige „Mess-Stiftungen“, sozusagen „Stipendien-Fonds“ wurden getätigt, und davon lebten die nachgeborenen Söhne reicher Familien, die sich zu Priestern weihen ließen und nichts anderes taten, als an einem der vielen Altäre in den Kirchen Messen zu lesen für die Anliegen der Stipendiengeber – Luther nennt sie mit Recht die „Winkelpfaffen“. Man fasst sich heute an den Kopf, dass die Kirche dieses Treiben so lange geduldet hat.
Nun muss man wissen, dass diese abergläubische Praxis, wie Luther sie vor Augen hatte, eben nur eine Praxis war, niemals offizielle kirchliche Lehre – freilich von der Kirche geduldet. Zwar hat meine Generation noch im Katechismusunterricht zur Vorbereitung auf die Erstkommunion gelernt, die Messe sei „die unblutige Erneuerung“, ja „die unblutige Wiederholung“ des blutigen Kreuzesopfers auf Golgotha. Aber eigentlich hat schon das Konzil von Trient (1545 bis 1563), herausgefordert durch die Kritik der Reformatoren, im Dekret über das Messopfer mit dieser Vorstellung aufgeräumt: Man behält zwar die traditionelle Sprechweise bei, die Messe sei ein wahres und wirkliches Opfer, aber das sei so zu verstehen, dass das eine Kreuzesopfer Christi in der Messfeier vergegenwärtigt und seine Gabe an die Gläubigen ausgeteilt werde. Trotzdem blieben die „Privatmessen“ und das Stipendienwesen – bis heute, vor allem in den Klöstern der Priesterorden. Die schlimmsten abergläubigen Auswüchse konnten freilich abgestellt werden.
Ganz ohne Einfluss des ökumenischen Dialogs kam es dann aber im 20. Jahrhundert zu weiteren Klärungen, die eigentlich schon damals Peter Brunners Feststellungen nicht mehr Recht gaben. Im Zuge der schon angedeuteten Erneuerung der Theologie der Sakramente hat Papst Pius XII. in der Enzyklika Mediator Dei 1947 festgestellt: Der sogenannte „Opfercharakter“ der Eucharistie besteht darin, dass Christus unblutig dasselbe tut wie am Kreuz: Er bringt sich selbst dem ewigen Vater als Opfer dar (Denzinger-Hünermann, Kompendium der Lehrentscheidungen, Nr. 3847). Dies geschieht so, dass er durch die getrennten Einsetzungsworte über Brot und Wein gegenwärtig wird in der Trennung von Leib und Blut, das heißt: er wird in einer Weise gegenwärtig, die symbolisch den Zustand seines Opfertodes „demonstriert“ (memorialis demonstratio, DH 3848). Mit anderen Worten: Mit der Doppel-Konsekration ist die Messe als „Opfer“ abgeschlossen, da bleibt, wenn das gilt, nichts mehr „darzubringen“. Noch deutlicher wird sein Nach-Nachfolger Paul VI. in der Enzyklika Mysterium Fidei von 1965. Der Opfercharakter ist nach den Worten des Papstes zwar das Herzstück des ganzen eucharistischen Geheimnisses. Aber das ist nicht so zu verstehen, als ob wir Christus darbringen, vielmehr bringt die Kirche sich selbst dar, indem sie sich in den Opfergehorsam Jesu hineinbegibt und so mit ihm vor den Vater tritt. Hier ist nichts mehr, was Luther zu kritisieren hätte. Und die Konsequenz zieht das Dokument der Internationalen Lutherisch-Römischen-Kommission „Das Herrenmahl“ von 1978, in dem es erklärt, das Kreuzesopfer Christi kann weder ergänzt, noch wiederholt, noch erneuert werden. Es ist seltsam, aber wahr: Die richtig verstandene und von Missverständnissen gereinigte Lehre von der Eucharistie als „Opfer“ ist heute weniger ein ökumenischer Stolperstein als die immer noch nicht ganz ausgestandenen Probleme um die „Realpräsenz“, die wirkliche Gegenwart des Leibes und Blutes Christi unter den eucharistischen Gestalten.


5. Verehrung Marias und der Heiligen

Früher – und das ist noch nicht so lange her – war die Verehrung Marias und der Heiligen für evangelische Christenmenschen nicht nur fremd, sondern anstößig. Das hängt mit der – zuweilen heute noch nicht ausgestorbenen – Falschmeldung zusammen, die Katholiken würden Maria und die Heiligen „anbeten“. Und überhaupt gefährde die Heiligenverehrung die alleinige Heilsmittlerschaft Jesu Christi. Der äußere Anschein kann auch heute noch das evangelische Befremden fördern – wenn schon nicht in Deutschland, so bestimmt in Italien, in Spanien, in Polen, in Lateinamerika – man denke ja auch nur an Lourdes in Frankreich, an Fatima in Portugal.
Nun, die Luther- und Reformationsforschung hat klargestellt, dass Luther und Melanchthon nichts gegen das Glaubensvorbild der Heiligen und in diesem Sinne nichts gegen eine Heiligenbewunderung einzuwenden hatten. Sie haben sich nicht nur, nicht zuletzt wieder einmal im Anblick abergläubischer Praktiken, gegen eine Vermittlungsfunktion der Heiligen an Christus vorbei gewandt, und so ist die Heiligenverehrung in den evangelischen Kirchen ausgestorben. Von katholischer Seite sind aber immer schon und erst recht im Blick auf die reformatorische Kritik folgende Punkte klar gewesen:
(1) Wir beten die Heiligen nicht an, sondern wir rufen sie an, wie wir auch auf Erden einander um Fürbitte bitten dürfen. Dies ist problemlos im Rahmen des Glaubens an das ewige Leben und daher an die „Gemeinschaft der Heiligen“, die die irdische Kirche und die Verklärten bei Gott umfasst.
(2) Es ist immer klar gewesen, dass die „Anrufung“ bedeutet, die Heiligen mögen für uns bei Christus und durch ihn beim Vater für uns eintreten. Nie sollten sie als „Mittler und Mittlerinnen“ an die Stelle Christi treten.
(3) Es mag gerade für Katholiken überraschend klingen, ist aber wahr: Es gibt kein Dogma der katholischen Kirche, dass man die Heiligen – einschließlich Maria! – verehren und anrufen müsse, um ein guter Katholik zu sein. Es heißt immer nur: es ist erlaubt, es ist heilsam und es ist nie mit der Anbetung Gottes zu verwechseln.
(4) In jüngster Zeit hat die Kirche auch ausdrücklich davor gewarnt, in der Frage der Marien- und Heiligenverehrung eine Praxis zu befolgen, die den nicht-katholischen Gläubigen falsche Vorstellungen von der wirklichen Lehre der Kirche vermittelt – einschließlich scharfer Warnungen vor kommerziellem Missbrauch. So ist in der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (im 8.Kapitel) und in dem Apostolischen Schreiben Marialis Cultus Papst Pauls VI. von 1974. Katholiken, die dies alles ernst nehmen, sind in Sachen Heiligenverehrung gute Lutheraner! Der Rest ist eine Frage des Frömmigkeitsstils, der niemanden verpflichtet. Im Klartext: Im Falle neuer Kirchengemeinschaft muss kein evangelischer Christenmensch befürchten, er sei nun verpflichtet, die katholische Praxis der Heiligenverehrung zu übernehmen.


6. Das kirchliche Amt

Früher – und das ist noch nicht so lange her – dachten Katholiken ganz unbefangen, dass der Amtsträger, also der Bischof und der Priester, ein „Vermittler“ zwischen Gott und den Gläubigen sei. Und zwar durch die Sakramente, durch die uns geheimnisvollerweise Gottes Gnade geschenkt werde. Dass auch der Zuspruch des Wortes Gottes schon Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch herstellt, war ja verdeckt durch den Gedanken vom Worte Gottes als (bloßer) Information (siehe oben 1.). Konsequenz: Wenn der Priester – und das konnte er nach pflichtgemäßem Ermessen – einem Gläubigen das Sakrament verweigerte, dann schnitt er ihm dadurch die Gnade Gottes ab. Von daher hält sich bis heute auf evangelischer Seite nicht selten die Falschmeldung, nach katholischer Lehre sei alle Gnade „sakramental“, das heißt: ausschließlich durch die Sakramente vermittelt. Klar, dass schon Luther gegen diese Vorstellung von der „vermittelnden“ Funktion des Amtsträgers polemisierte – im Grunde schon in den Ablassthesen. Wie kann ein Mensch durch einen amtlichen Akt entscheiden, wem Gott seine Gnade zukommen lässt und wem nicht! Es ist ja auch schwer begreiflich, dass die klaren Aussagen vor allem des Hebräerbriefes, die jede „Vermittlung“ zwischen Mensch und Gott ausschließen außer derjenigen durch den einzigen Hohenpriester Christus, so verdrängt wurden.
Dann kam das Zweite Vatikanische Konzil. Und wiederum aufgrund von Vorarbeiten in der Theologie der Zeit davor, nicht zuletzt aufgrund der vertieften Einsichten zum Thema „Wort Gottes“ und zum Verständnis der Sakramente (siehe oben 1. und 3.) konnte keine Rede mehr davon sein, dass das kirchliche Amt „zwischen“ Gott und Mensch tritt. Und so kommt es, dass nach den Aussagen des Konzils im Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe und im Dekret über den Dienst der Priester beide Mal gleichlautend festgehalten wird: Die Amtsträger leiten ihre Diözesen beziehungsweise Gemeinden durch die Verkündigung des Evangeliums und die Darreichung der Sakramente – in dieser „gut lutherischen“ Reihenfolge. Wenn es so etwas wie „Vermittlung“ gibt, dann besteht sie buchstäblich in der „Mit-teilung“ des Evangeliums durch Wort und sakramentales Geschehen, durch die Gott unmittelbar den Glauben wirkt und stärkt.
Und genauso empfinden heute auch katholische Christenmenschen den Dienst ihrer Pfarrer und Bischöfe, und sie können ganz schön unmutig werden, wenn diese ihnen in einer autoritären Weise entgegentreten und nicht nur als institutioneller, gleichsam Person gewordener Hinweis auf Gott und Jesus Christus, besonders bei der Feier der Liturgie.
Nun will ich nichts schönreden. Immer wieder hört man im ökumenischen Dialog den fast schon mantra-ähnlichen Hinweis, das Amtsverständnis sei der entscheidende Stolperstein, ja der Felsblock des ökumenischen Dialogs, an dem alle anderen schon erreichten Verständigungen zerschellen. Fragt man weiter, dann kommt der Hinweis: Die evangelischen Amtsträger stünden nicht in der „apostolischen Sukzession“, der „apostolischen Amtsnachfolge“, diese sei vielmehr in der Reformationszeit „abgerissen“. Das ist nun eine Elefantenmahlzeit, die wir hier nicht anschneiden können. Aber soviel möchte ich doch sagen:
(1) Im Anschluss an den Vorbehalt im Ökumenismus-Dekret Artikel 22, wonach den evangelischen Kirchen das Weihesakrament fehle (defectus ordinis), ist diese Frage seit vier Jahrzehnten in allen Richtungen diskutiert worden, und ich möchte gern das Argument kennen lernen, das in dieser Diskussion noch nicht vorgebracht worden ist und die Diskussion noch einmal auf eine ganz neue Grundklage stellt, sei es für, sei es gegen die Feststellung einer Übereinstimmung.
(2) Die Luft ist in dieser Debatte, vor allem auf katholischer Seite, voll von Inkonsequenzen und Denkverweigerungen.
(3) Im Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, dem ich angehöre, haben wir seit 2002 dieses Thema zum Gegenstand eines gründlichen Projektes gemacht, drei Bände sind es geworden, ein wahres Standardwerk zum Thema unter allen Aspekten: Bibelwissenschaft, Theologiegeschichte, Liturgiegeschichte, systematisch-theologische Fragen. Der dritte Band ist 2008 erschienen und schließt nach einem überaus gründlichen zusammenfassenden Schlussbericht mit einem Votum, eine internationale „Gemeinsame Erklärung II“ zum Thema „Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge“ zu erarbeiten, ähnlich wie die Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999.
(4) Entscheidend war dabei die Einsicht, dass „apostolische Amtsnachfolge“ auf keinen Fall verbindlich in einer – ohnehin nie nachweisbaren – lückenlosen Kette der Amtsübertragungen, der Handauflegungen seit den Tagen der Zwölf Apostel bestehen könne, vielmehr in der Nachfolge in der apostolischen Lehre. Zu genau diesem Ergebnis kam nun auch jüngst das Dokument der Internationalen lutherisch-katholischen Kommission „Die Apostolizität der Kirche“.
(5) Dass wir aber gemeinsam in dieser apostolischen Lehre geblieben sind, das haben wir uns doch gerade in der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ vom 31. Oktober 1999 gegenseitig bestätigt. Was hindert uns also an einer gegenseitigen Anerkennung der Ämter, außer der Trägheit des Verstandes und des Herzens? Die Praxis in der Ausgestaltung der Ämter, im Klartext: die amtlichen „Hierarchien“ muss dabei so wenig uniform sein wie die unterschiedlichen Lehrgestalten der Rechtfertigungslehre, die die grundlegenden Übereinstimmungen nicht aufheben. Notwendig wären höchstens einige gegenseitige verbindliche Verabredungen, um beiderseits eventuelle Anstöße zu beseitigen.
(6) Es ist richtig, dass auf dem Weg zu einer solchen gegenseitigen Anerkennung der Ämter die seit einigen Jahrzehnten übliche Berufung von Frauen ins kirchliche Amt der evangelischen Kirchen noch einmal ein zusätzliches Problem aufwirft. Dem können wir hier nicht im Einzelnen nachgehen. Aber dieser Hinweis kann gegeben werden: Es ist seit spätestens 1964 bei ganz „unverdächtigen“ katholischen Dogmatikern aktenkundig, dass es keine dogmatisch zwingenden Gründe gegen das kirchliche Amt für Frauen, konkret: für die Priesterweihe für Frauen gibt. Selbst wenn die katholische Kirche sich also zur Zeit nicht entschließen kann, Frauen zu „ordinieren“, so müsste das eine Anerkennung der Ämter in der evangelischen Kirche nicht blockieren.


7. Das Papsttum

Es bedarf keiner Diskussion, um festzustellen: Ein Papsttum, wie es sich gegenwärtig in Selbstverständnis und Praxis darstellt, hat keine ökumenische Chance im 21. Jahrhundert. Und sofern alle Verständigungen letztlich nach Lage der Dinge der Zustimmung des Papstes bedürfen, kann und muss am Papsttum letztlich wieder alles scheitern, wenn es sich nicht ändert. Und sowohl Papst Paul VI. wie auch sein Nachfolger Johannes Paul II. haben in aller Eindeutigkeit erklärt, sie seien sich dessen bewusst, dass ihr Amt das größte Hindernis für eine ökumenische Verständigung sei. Anderseits ist gerade in den letzten Jahren die Papstbegeisterung im katholischen Kirchenvolk enorm gewachsen. Nicht als ob man alles befolgt oder richtig findet, was er sagt! Schon gar nicht auf den Weltjugendtagen – wozu man sich keinen Illusionen hingeben muss. Aber der Papst ist die Identifikationsfigur des Katholisch-Seins – und kein noch so hoher Repräsentant der evangelischen Christenheit kann da mithalten. Und so können sich Katholiken eine Kirche ohne Papst kaum vorstellen. Was also denken und tun? Bleibt es für immer bei dem Vorbehalt Peter Brunners?
Ohne wiederum eine Elefantenmahlzeit anschneiden zu wollen, können doch einige ganz einfache Einsichten Entlastung schaffen und Hoffnung fördern.
(1) Im Unterschied zum Bischofsamt gibt es keine verbindliche neutestamentliche Vorgabe für ein Petrusamt – Ton liegt auf Amt! Der Primat des römischen Bischofs mit heute universaler Jurisdiktion und Lehrvollmacht ist ein Ergebnis der Geschichte und kann sich daher auch wieder verändern.
(2) Zu fragen ist, ob dieses geschichtlich gewordene Petrusamt in der Kirche einen guten Petrusdienst getan hat und weiterhin tun kann. In dieser Hinsicht ist die Papstgeschichte trotz allem keine bloße Skandalgeschichte. Vielmehr gibt es in der Geschichte und bis heute Leuchtfeuer eines hilfreichen Petrusdienstes.
(3) Wenn man zurückblickt, wie viel sich allein im Stil der Amtsführung des Papstes seit der geistlichen Königsfigur Papst Pius’ XII. an Veränderungen getan hat, vor allem durch Johannes XXIII. und Johannes Paul II., aber auch inzwischen durch Benedikt XVI., dann kann man noch viel für möglich halten. Heute können von Katholiken einzeln oder in Gruppen freimütig Forderungen nach einer Reform des Papsttums angemeldet werden – undenkbar unter einem Pius XII.!
(4) Und am wichtigsten: Die Ostkirchen werden niemals auch nur die mildeste Form eines Jurisdiktionsprimates des römischen Bischofs anerkennen. Trotzdem hält man es in Rom für möglich, mit den Ostkirchen zu einer neuen Kirchengemeinschaft zu finden – auf der Basis der Tradition des ersten Jahrtausends. Das heißt dann aber: Man kann Kirchengemeinschaft schließen mit Kirchen, die eine Lehre und Praxis verwerfen, welche in der römisch-katholischen Kirche immerhin den Rang eines feierlich verkündeten Dogmas hat. Wenn das gegenüber den Ostkirchen möglich ist, muss es auch den Reformationskirchen eines Tages zugute kommen. Ich sage daher gern: In der Papstfrage führt der Weg nach Wittenberg über Konstantinopel!
(5) Inzwischen gibt es auch auf evangelischer Seite seit etlichen Jahren erste Stimmen, die sich überlegen, ob es nicht ein „Amt der ökumenischen Einheit“, ein „universales Sprecheramt“ für die Gesamtchristenheit geben könne. Natürlich erschallt sofort der Protest: „Nie werde ich den Papst für mich sprechen lassen!“ Klar, ein Papst nach dem bisherigen Bild kann dieses gesamtchristliche Sprecheramt nicht ausüben – obwohl der Papst, Stichwort „Medienpräsenz“, von der außerchristlichen Welt faktisch schon als ein solcher Sprecher wahrgenommen wird. Aber wer will wissen, welche Wege der Heilige Geist uns und die römische Kurie noch führt? Der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann hat seinerzeit formuliert: „Der schlichte Holzsarg Papst Pauls VI. auf dem Petersplatz sagt mehr aus über die Veränderungen in der katholischen Kirche als zahllose Lehrdokumente zusammen.“


8. Der verborgene Gott

Das Wichtigste, was, wie mir scheint, Katholiken von Luther gelernt haben, ohne um die Quelle zu wissen, ist Luthers Anschauung vom verborgenen Gott. Luther hat einmal gesagt: Wenn man sich den Lauf der Welt ansieht, könne man denken, es gebe keinen Gott oder Gott sei der Teufel. Er nennt das die „Verborgenheit Gottes unter dem Gegensatz“ – unter dem Gegenteil dessen, was die Menschen sich mit ihrer Vernunft ausdenken, wie Gott doch eigentlich sein müsste: souverän die Geschicke der Welt lenkend und in seiner Schöpfung daher erkennbar. Luther hat damit eine ganz moderne Erfahrung vorweggenommen: Die Erfahrung der scheinbaren „Abwesenheit“ Gottes in dem nach seinen eigenen Gesetzen ablaufenden Weltgeschehen. Für den Christen Luther ist diese „Abwesenheit“ Gottes allerdings nicht nur eine Erfahrung, sondern Konsequenz aus seiner Theologie des Kreuzes. Am Kreuz seines Sohnes hat ja Gott seine Macht unter dem Gegenteil verborgen: in der Ohnmacht des Gekreuzigten. Seitdem ist es gewissermaßen „normal“, wenn wir Gott nicht problemlos aus den Werken der Schöpfung erkennen. Durch das Kreuz Jesu Christi hat er klar gemacht, wo wir ihn finden sollen und können: gerade in dem, was ihm zu widersprechen scheint – im Kreuz und darum auch im Leiden, unter den negativen Erfahrungen des Lebens.
Vielleicht verbinden wir heute die Erfahrung der radikalen Verborgenheit Gottes nicht so unmittelbar mit dem Kreuz. Aber dass Luther hier eine ganz moderne Erfahrung vorweggenommen hat, daran besteht kein Zweifel.
Und das hat eine ganz bedeutende Konsequenz für den Glauben, und diese wiederum erfahren auch alle Katholiken: Der Glaube ist immer angefochten, verunsichert, immer von Fragen umstellt. Früher nannte man das „Glaubenszweifel“, und man hielt die Katholiken an, genau nachzudenken, zu studieren, Rat zu holen – dann müsste unter vernünftigen und glaubenswilligen Menschen der Zweifel zu beheben sein. Seit Luther und inzwischen wiederum auch ganz ohne Luther wissen wir: Die „Anfechtung“, ja der Zweifel gehören grundsätzlich, „strukturell“ zum Glauben dazu. Christen müssen sich nicht – wie früher – schon halb ungläubig vorkommen, wenn sie Fragen haben, ja mit gewissen Aussagen des Glaubens womöglich lebenslang nicht zurechtkommen. Wir sind in sachgemäßer Abwandlung von Luthers berühmter Formel, „gläubig und ungläubig zugleich“.


III. LUTHER – KATHOLISCH? KATHOLIKEN – HEIMLICHE LUTHERANER?

Als Hubert Jedin, wie eingangs erwähnt, 1967 den inquisitorischen Satz gegen mich formulierte: „Wer aber den ganzen Luther katholisch machen will, wird selber Lutheraner“, war meine Doktorarbeit noch nicht veröffentlicht – das geschah erst einige Monate später. Aber ich war mit ersten Veröffentlichungen zur Theologie Luthers auf der theologischen Bühne erschienen und hatte mir die ersten Kontroversen eingehandelt. Einige Jahre später, 1981, bei einer gemeinsamen Luther-Tagung der Katholischen Akademie in Bayern und der Evangelischen Akademie Tutzing, habe ich auf Hubert Jedin geantwortet: „Wer als Katholik Luther studiert und nie die Versuchung verspürte: hier weht die reine Luft des Evangeliums, ich muss zur Evangelischen Kirche konvertieren, der hat ihn nicht verstanden. Mit kalter Gerechtigkeit [wie bei Jedin] wird man Luther nicht gerecht.“
Das Schöne an all den geschilderten oder angedeuteten Entwicklungen in der katholischen Theologie und im katholischen kirchlichen Bewusstsein ist: All dies wurde erreicht nicht erst durch den Einfluss des Ökumenischen Dialogs – gewissermaßen als Konzession an den konfessionellen Gesprächspartner. Vielmehr ergaben sich diese positiven Entwicklungen schon lange vor dem intensiveren und gar „offiziellen“ ökumenischen Dialog. Einfach aus einer genaueren Befragung der katholischen Tradition vor dem Hintergrund einer unfruchtbar und gar materialistisch gewordenen katholischen Volksfrömmigkeit und einer steril geworden neuscholastischen Handbuch-Theologie. Erst nachträglich stellte man mit Freude fest, dass sich auf diese Weise eine neue Basis für fruchtbaren ökumenischen Dialog ergab – gelegentlich nach dem Modell des nicht ganz aufrichtigen Slogans: „Das haben wir ja schon immer gesagt.“ Wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass gleichzeitig auch die evangelische Theologie unechte Gegensätze zu durchschauen lernte – ausgenommen auf beiden Seiten diejenigen, die einerseits in diesen ökumenischen Prozess sich nicht einbinden ließen, gleichwohl immer schon zu wissen meinten, was die gegnerische und was die für keine Rückfrage offene eigene Position sei. Ich vermeide Beispiele!
Zuweilen gibt es auf beiden Seiten allzu eilfertige Urteile: Das alles ist doch nur eitles Theologengezänk, das die Erfahrung des gemeinsamen Glaubens nicht kaputt machen darf! In vielen Einzelpunkten darf man das sogar zugeben. Wir Katholiken können zugeben, dass wir sehr vieles von Luthers reformatorischen Einsichten in Theorie und kirchlicher Praxis uns mit zeitlicher Verzögerung zu Herzen genommen haben. Das reicht von den anonym übernommenen geistlichen Liedern Luthers und anderer reformatorischer Dichter in katholische Gesangbücher schon im 16. Jahrhundert (Vehe’sches Gesangbuch, Leisentritt’sches Gesangbuch) bis hin zur Erfüllung von wesentlichen Reformforderungen Luthers und der Reformatoren in den Reformdekreten des Trienter Konzils - leicht zu zeigen, wenn hier noch Zeit wäre. Aber das darf nicht heißen, dass wir uns die Geduld ersparen dürften, dicke Bretter zu bohren, wo wirklich noch dicke Bretter sind. Immer aber kann es ein Kriterium des Urteils sein, was ich nicht zuletzt mit lebenslangem Dank an meine Freunde und Gesprächspartner aus der evangelischen Theologie in einem Doppelsatz so ausdrücken kann:
Wir können nicht Luther anklagen, wenn er damals schon bestritten hat, was heute auch kein katholischer Theologe mehr so vertreten würde. Und wir können nicht Luther anklagen, wenn er damals schon gesagt hat, was heute auch katholische Theologen und gläubige Katholiken ganz selbstverständlich finden.

Hinweis: Teile dieses Vortrags-Textes sind unter dem Titel „Luther und die Katholiken“ als Doppelbeitrag erschienen in der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“, Nr.43 und 44, 25. Oktober und 1. Nobember 2009. Sie werden hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion zur Verfügung gestellt.

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Warum ich es glaube

Um die Auferstehung zu verstehen, brauchen wir ein ehrlicheres Verhältnis zum Tod

Von Tibor Pézsa,
erschienen in der HNA-Sonntagszeit vom 3. April 2010

Oh Gott, die Kirche. Ein Problem hat, wer sich heute noch zu seinem Glauben und seiner Kirchenzugehörigkeit bekennt. Ich tue es. Nach Meinung einer großen Mehrheit in unserem Land befinde ich mich damit in zweifelhafter Gesellschaft, irgendwo zwischen Heuchlern, lebensfernen Sonntagsrednern und - natürlich - Kinderschändern.

Heute scheint alles gegen die Kirche zu sprechen. Wenn da nicht eine Geschichte wäre, die sie wieder und wieder erzählt und ein ums andere Mal in ihren Feiern vergegenwärtigt. Es ist eine unglaubliche Geschichte, eine Zumutung. Es ist die Geschichte von Tod und Auferstehung Jesu Christi. Eine Geschichte, die Leben verändern kann - die Ostergeschichte.

Sie findet uns Heutige ziemlich unvorbereitet und verständnislos. Denn am Tod interessiert uns nur die Frage, wie wir ihn möglichst weit von uns wegschieben können. Tod, das ist etwas für andere, hoffen wir. Und so sorgen wir vor und sichern uns ab, leidenschaftlich. Hoffnung verkehrt.

Um die Ostergeschichte verstehen zu können, brauchen wir ein ehrlicheres Verhältnis zum Tod in all seinen Erscheinungsformen. Wir müssen uns den Verlierern zuwenden. Stattdessen aber meiden wir sie, weil wir uns letztlich selbst in ihnen erkennen: voller Fehler, Schwäche und Unzulänglichkeit.

Unablässig beschwören wir unsere Angst vor der eigenen Niederlage, vor Tod und endgültigem Verlust, morgens, mittags und abends. "Fürchtet euch sehr - das ist die Botschaft der Medien." So schrieb vor einem Jahr die Journalistin Sabine Rückert in der "Zeit".

Wenn die Tagesschau vorbei ist, dann sind wir allein mit unseren persönlichen Ängsten: vor dem Altwerden, Jobverlust, Trennung, Armut, Krankheit. Wir glauben nicht, dass wir gewinnen können. Wir glauben an die Wirtschaftskrise. Die Überalterung der Gesellschaft; ihre Kinderlosigkeit. Die Klima- und andere Katastrophen. Wir glauben an den Verlust, nicht daran, was die Älteren einmal Gnade nannten.

Eines Abends liegt die Mutter deiner Kinder zu Tode verletzt auf der Straße. Sie kann sterben. Sie kann leben. Das hängt entscheidend am ärztlichen Können. Befreiung, Erlösung - Auferstehung - beginnt in dem Moment, in dem du Ja sagen kannst zu dem, was nun geschehen kann oder muss. Kämpfen musst du sowieso.

Am Gründonnerstag, dem letzten Abend, bevor ihn die Soldaten holen, betet Jesus: Nicht mein Wille geschehe, sondern deiner. Wir können uns immer so entscheiden wie er, nicht nur, aber vielleicht gerade in einer solchen Stunde. Tod und Auferstehung, das ist nicht nur etwas, was nach diesem Leben stattfindet. Es passiert hier und jetzt.

Natürlich ist es schwer. Wir verhalten uns lieber wie in Rainer Werner Fassbinders berühmtem Film "Angst essen Seele auf" - wie Einwanderer im eigenen Leben, dem wir nicht trauen. Aber nicht trotz unserer Sicherheitsmaßnahmen sterben wir viele Tode, bevor wir in den letzten gehen. Wir sterben sie deswegen.

Den Gegenentwurf zu diesem Leben der verkehrten Hoffnung und großen Angst formuliert jener Wanderprediger, der vor 2000 Jahren am Stadtrand von Jerusalem qualvoll am Kreuz erstickte: Halt dich nicht fest an dem, was du hast. Verlass deine Familie. Folge mir nach. Lass die Toten ihre Toten begraben.

Wuchtige Sinnbilder sind dies, die in allen Konfessionen der christlichen Tradition vielgestaltig Form annahmen. Sie alle verweisen letztlich auf das eine österliche Geheimnis, welches wir Christen in diesen Tagen feiern: Tod und Auferstehung des Gekreuzigten. Beides gehört zusammen.

Auferstehung - wie kann das sein? Ganz sicher nicht so, wie es uns manche Filme vor Augen führen: als fetzenbehangene, schaurige Zombies. Wer die biblischen Geschichten so liest, als seien sie von Heutigen für Heutige geschrieben, der macht sich dümmer, als er sein sollte.

Die Auferstehung Christi ist bei Orthodoxen, Protestanten und Katholiken, in allen christlichen Konfessionen das entscheidende Sinnbild, der Höhepunkt der Lebensgeschichte jenes Jesus von Nazareth, die in den Evangelien überliefert wurde. Sie ist ein Versprechen darauf, dass wir uns aus unseren Erstarrungen, den großen und kleinen Ängsten unseres Lebens befreien können.

Glaube, Hoffnung, Liebe - das sind die Bausteine der christlichen Botschaft. Sie sind die Kehrseite der Angst, Motor unserer Auferstehungen. Und das nicht nur in jenem Himmelreich, das wir getrost den Spatzen überlassen dürfen, sondern ganz konkret unter uns. Eine Garantie gibt es nicht. Auch kein Rezept. Wer es aber schafft, seinen Ängsten Vertrauen entgegenzusetzen, der übt nicht nur das höchst befreiende Loslassen-Können. Der macht sich auf den Weg zu sich selbst und damit zu den anderen.

Die österliche Auferstehungsgeschichte ist nicht zu trennen von der Erfahrung des größten Verlusts, des Karfreitags, dem Todestag von Jesus Christus. So feiert die Kirche in diesen Tagen einen einzigen Gottesdienst: Er erstreckt sich vom Abend des letzten Abendmahls, dem Gründonnerstag, über die Todesstunde Christi am Karfreitag und die Grabesruhe am Karsamstag bis hin zur österlichen Auferstehungsfeier am Sonntagmorgen.

Als Jesus am Palmsonntag zum letzten Mal in Jerusalem einzieht, bejubeln ihn die Leute. Ein Missverständnis. Denn er zieht sogleich in den Tempel ("das Haus meines Vaters"), wo er laut schimpfend die Tische und Stände jener Leute umstößt, die ihre Mitmenschen in Gewinn- und Verlustbringer einteilen: Händler und Wechsler, Geldleute.

Manches, was Jesus heute tun würde, können wir uns ganz gut vorstellen. Er, der Mensch gewordene Gott, ist nicht der, der vor Zumutungen schützt. Er ist die Zumutung.

"Jesus hat das Reich Gottes verkündet - gekommen ist die Kirche." Dieses berühmte Wort des französischen Theologen Alfred Loisy macht die ganze Enttäuschung über das deutlich, was die Kirche auf ihrem langen Weg erreicht hat. Es ist wenig und viel zugleich. Abstoßend und anrührend. Es gibt gute Gründe, warum man nichts mit ihr zu tun haben will.

Kirche, das war immer eine Gemeinschaft von Sündern und Heiligen. Es ist aber auch die Gemeinschaft derer, die sich noch heute vom christlichen Ruf erreichen lassen. Es sind Menschen, die trotz aller Unzulänglichkeiten, Zweifel und aller Angst, die sie umgibt, jene Hoffnung in sich tragen, die letztlich vom Hören auf Gott kommt. Diese Menschen, das scheint mir sicher, sind überall zu finden, ganz bestimmt nicht nur in der Kirche. Sie nehmen Maß am Wiederauferstandenen. Ob absichtlich oder nicht. Kaum zu glauben. Aber wahr.

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"Das Scheitern des bisherigen Afghanistan-Einsatzes offen benennen"

Aus Anlass der Internationalen Afghanistan-Konferenz am 28. Januar 2010 in London fordert der Präsident der deutschen pax christi Sektion, der Fuldaer Bischof Heinz Josef Algermissen die Bundesregierung zu einem Kurswechsel in der Afghanistanpolitik auf.

Logo Pax ChristiIn der Erklärung des Bischofs heißt es dazu unter anderem: „Gerade wer den deutschen Soldaten und Soldatinnen in Afghanistan den Rücken stärken will, muss den Mut zur Wahrheit haben und das Scheitern des bisherigen Afghanistan-Einsatzes offen benennen. Der in den Petersberger Gesprächen 2001 vereinbarte Prozess hat in die Sackgasse der kriegerischen Eskalation geführt. Ein massiver Widerstand, wie er sich inzwischen im Norden Afghanistans gegen die ISAF-Mission formiert, ist nicht mit militärischen Mitteln zu überwinden. Der Frieden für Afghanistan muss von innen wachsen. Er kann nur dann von außen gefördert werden, wenn die Mittel dazu geeignet sind, die Zivilgesellschaft und ihre Fähigkeit zum Dialog, zum Ausgleich gesellschaftlicher Kräfte und zur Konfliktregulierung zu stärken.

"So brauchen wir Kirche: offen, mutig und selbstbewußt"

Dechant Harald Fischer: "Wunderbar: Unser Bischof mischt sich in die Diskussion um den Militäreinsatz in Afghanistan ein. So brauchen wir Kirche: offen, mutig und selbstbewußt. Kirche muß auch sagen dürfen, was nicht alle hören wollen."
Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Bischöfin Käsmann, hat die Diskussion angestoßen. In ihrer Neujahrsansprache erklärte sie: "Nichts ist gut in Afghanistan!" Wer wollte sich wundern, wenn diejenigen, die den katastrophalen Militäreinsatz zu verantworten haben, aufschreien, sobald sie diese Kritik hören!

Hier können Sie die gesamte Stellungnahme herunterladen: Download "Mut zur Wahrheit: Der Militäteinsatz ist gescheitert". (88 KB)

Auch im hr-Fernsehen nahm Bischof Algermissen klar Stellung: Bitte beachten Sie dazu die Liste der angebotenen Videos.

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