21.08.2005, 21. Sonntag im Jahreskreis
Röm 11, 33-36 und Röm 9-11


Das Beste im Leben, liebe Gemeinde, gibt’s umsonst, sagt man. Worauf es im Leben ankommt, das kann man sich nicht kaufen. Für ein teures Auto kann man sparen, eine Riesen-Villa kann man vielleicht erben. Eine ganze Schlossallee besitzt man höchstens bei Monopoly. Sympathische Mitmenschen aber - da fängt’s an - die kann ich für Geld nicht erwerben. Oder eine echte Liebe, ein gesundes Kind. - Oder Gott. Wie sollte das gehen?
 
Was meinem Leben Richtung gibt und Sinn, darauf bin ich mehr oder weniger angewiesen; es kommt auf mich zu. Ist nix zum Selbermachen. „Do ist yourself!“ ist religiös wenig erfolgreich. Auch die Kirche hier ist kein Hagebau-Markt für Fromme. Diese Erfahrung ist nicht neu, sondern uralt und gut biblisch.
 
Der Römerbrief aus der heutigen Lesung zum Beispiel ist voll davon. Da singt der Apostel Paulus ein Loblied auf Gott: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege!“ Paulus steht in Rom vor der schier unlösbaren Aufgabe, seinen Glaubensbrüdern, nämlich den Juden, verständlich zu machen, dass die Botschaft von Jesus, dem Christus, auch sie etwas angehe. Drei Briefkapitel lang (die Kapitel 9-11 hindurch) schreibt er sich die Seele aus dem Leib, redet er - gleichsam mit Engelszungen - davon, dass die Erwählung Israels zu einem besonderen Gottesvolk weiterhin Bestand hat, auch jetzt, da sich das Wort Gottes an andere, zum Beispiel an Heiden richte.
 
Im 9. Kapitel heißt es: „Ja, ich möchte selber verflucht und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind. Es ist (aber) keineswegs so, dass Gottes Wort hinfällig geworden ist (…). Nicht die Kinder des Fleisches sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden als Nachkommen anerkannt“. (…) Denn zu Mose sagt er: Ich schenke Erbarmen, wem ich will, und erweise Gnade, wem ich will.“ (Röm 9, 3. 6. 8. 15)
 
Die Zuwendung, die der eine Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Gott Jesu Christi schenkt, ist sozusagen in doppelter Hinsicht verlässlich. Er steht zu dem einmal geschlossenen Bund und er schafft sich unaufhörlich ein neues Volk. In diese ungeheure Spannung von Erfüllung und Verheißung sind Juden wie Christen eingespannt. Gottes Liebe kennt keine Grenzen. Sie lässt sich nicht vereinnahmen, vorausberechnen, sicherstellen, durch falschen Eifer gleichsam erkaufen. Das ist die neue, reichlich verwegene Botschaft an beide, Juden wie Heiden: Gott lässt sich finden von solchen, die ihn nicht auf der Rechnung haben, ihn gar eigentlich nicht suchen.
 
„Heiden, die die Gerechtigkeit nicht erstrebten“, schreibt Paulus, „haben Gerechtigkeit empfangen, die Gerechtigkeit aus Glauben. Israel aber, das nach dem Gesetz der Gerechtigkeit strebte, hat das Gesetz verfehlt“, heißt es im Römerbrief. „Warum? Weil es ihm nicht um die Gerechtigkeit aus Glauben, sondern um die Gerechtigkeit aus Werken ging.“ (Röm 9, 30-32)
 
Eine verkehrte Welt, so scheint es. Warum sollen die, die sich nach Kräften bemühen, falsch liegen und am Ende leer ausgehen? Was ist das für eine „Gerechtigkeit“? Was sind das für Maßstäbe?
 
Paulus weiß: Übertriebener Eifer vor Gott hat keinen Wert. Es ist „Eifer ohne Erkenntnis“, sagt er, bloßer Gesetzesgehorsam, der die Gerechtigkeit Gottes verkennt und lieber seine eigene aufbaut. Menschen-gerechtigkeit eben. Die mag das Zusammenleben von Menschen auf Erden zwar regeln und im Streitfalle schlichten. Das ist ohne Zweifel notwendig. Aber sie führt eben nicht hoch hinaus, in die Welt Gottes. Weil sie nicht Maß nimmt (und aus eigener Kraft wohl auch gar nicht nehmen kann) an dem, was die Gerechtigkeit Gottes ist: „Denn Christus ist das Ende des Gesetzes, so der Römerbrief, und jeder, der an ihn glaubt, wird gerecht.“ (Röm 10,4)
 
Es wird deutlich: Das Maß, mit dem Gott seine Geschöpfe misst, ist aus einer anderen Welt. Es basiert nicht auf Leistung, sondern auf Gnade. Es ist ein Gottesgeschenk. Gnade heißt lateinisch „gratia“. Darin steckt „gratis“. Gottes Zuwendung ist vollkommen gratis, kostenlos. Und unberechenbar. Es nützt nichts, erst noch irgendwo das Kleingedruckte lesen zu wollen in Gesetzesbestimmungen, dogmatischen Abhandlungen oder Moral-Handbüchern. Paulus sagt:
Wer mit dem Herzen glaubt und mit dem Mund bekennt, wird Gerechtigkeit und Heil erlangen.“ (Röm 10, 10)
Das ist die rettende Botschaft für alle, für Juden und Heidenchristen, für das Volk des Ersten und des Zweiten Bundes, für die älteren und jüngeren Geschwister im Glauben an den einen Gott.
 
Papst Benedikt XVI. hat (vor-)gestern bei seinem Besuch in der Synagoge in Köln, dem ersten Besuch eines Papstes in einer deutschen Synagoge überhaupt, auf beeindruckende Weise vor der Weltöffentlichkeit diese Geschwisterlichkeit von Juden und Christen betont: 
„Sowohl die Juden als auch die Christen erkennen in Abraham ihren Vater im Glauben und berufen sich auf die Lehren Moses und der Propheten. Die Spiritualität der Juden wird wie die der Christen aus den Psalmen gespeist. Mit dem Apostel Paulus sind die Christen überzeugt, dass Gnade und Berufung, die Gott gewährt, unwiderruflich sind.“
 
Das durch Jahrhunderte hindurch von Juden Erlittene - gerade das von Deutschen, auch deutschen Christen im Holocaust Zugefügte - wird durch eine päpstliche Erklärung nicht weniger grausam werden. Und doch stiften Worte, wie sie der deutsche Papst gefunden hat, vorsichtig Hoffnung. Sie ermutigen zu einem weiteren aufrichtigen und vertrauensvollen Dialog zwischen Juden und Christen. Und sie wecken das Vertrauen darauf, dass die Gnade Gottes am Ende größer ist als die Gewalt von Menschen, größer als Rassismus und Mord.
 
Theodor W. Adorno, der Frankfurter Kulturphilosoph und Soziologe, hat nach dem Krieg 1945 zu bedenken gegeben, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne, dass nach Auschwitz jede (vor allem deutsche) Vokabel den Kältetod gestorben sei und dass nach dem Holocaust sogar der Baum, der blüht, in dem Augenblick lüge, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens über Auschwitz wahrnimmt. - Lassen wir das Wort von der umfassenden Gnade Gottes, die die Sünde der Welt hinweg nimmt, nicht schon wieder viel zu leicht über unsere frommen Lippen kommen? Wären denn nicht zumindest manchmal Stille und Schweigen besser? - Um in Momenten wie (vor-)gestern in Köln, wo Juden und Christen feierlich in einem Gotteshaus zusammentreffen, mit dem Juden Paulus den Lobpreis auf den einen Gott anzustimmen:
„O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! (…) Aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!“, betet Paulus im Römerbrief. (Röm 11, 33. 36)
 
Mein verehrter Lehrer, der Theologe Johann Baptist Metz, hat auf Adorno seinerzeit geantwortet: „Wir können nach Auschwitz beten, weil auch in Auschwitz gebetet worden ist.“
 
Ludger Verst, Kassel