Vorabend von Fronleichnam, 29.05.2002


Liebe Gemeinde!

Fronleichnam ist das Fest der Eucharistie. Das erste, das eigentliche Fest der Eucharistie wird in der Karwoche gefeiert – am Gründonnerstag.
 
Aber der Gründonnerstag ist bereits umschattet von dem Dunkel des Kreuzes. An ihm gibt Jesus den Freunden sein Vermächtnis. Und das ist verbunden mit der Ahnung über den bevorstehenden Abschied. Die Freude über das Geschenk, das er ihnen gibt, kann sich an diesem Tag, kann sich bei dieser Feier nicht so recht entfalten: die Freude über die Gabe des Altarsakramentes.
 
Was ist das für eine Freude, die sich hier zeigen will?
 
Wenn man heute einen intelligenten, denkenden Menschen fragen würde: Was ist eigentlich Religion? Vielleicht würde er antworten: Es gibt ein Geheimnis hinter allen Dingen. Oder: Es ist da etwas Bleibendes – während alles andere zerfällt. Da ist ein Sinn in allem, mit dem sich mein Innerstes, meine Seele einmal verbinden wird.
 
Das sind schöne Gedanken, aber sie erreichen nicht den Kern der christlichen Botschaft. Die christliche Botschaft wendet sich nicht an die Seele, sondern an den Menschen. Nicht das Heil der Seele ist uns verheißen, sondern das Heil des Menschen.
 
In der Schöpfungserzählung im ersten Buch der Bibel heißt es: "Laßt uns Menschen machen als unser Abbild." Und das Ebenbild Gottes ist nicht die Seele, sondern der Mensch mit Leib und Seele.
 
Und als Erlösungsgeschehen Gottes an seiner Welt feiern wir, daß Gott Mensch geworden ist. Er ist Fleisch geworden - nicht nur Seele: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt" (Joh 1,14).
 
Das Geheimnis des Christentums ist nicht nur eine reine Geistigkeit. Das Christentum ist sehr irdisch, sehr weltbezogen, sehr "fleischlich".
 
Und von hier aus erfassen wir, was eigentlich das Sakrament ist. Im Glauben geht es nicht bloß um Innerlichkeit. Gott könnte, um Heil zu wirken, die Seele des Menschen allein berühren und jeden einzelnen zu sich ziehen. Aber die Weise wie Gott sich uns Menschen zeigt, ist leibhaftig, weltlich, real – nicht nur geistig. Das Sakrament ist das Zeichen, das wir sehen, hören, tasten können – als Wasser der Taufe, als Öl der Salbung, als Brot und Wein.
 
Das Sakrament ist eine sichtbare Brücke zur Wirklichkeit Gottes. Und es ist das sichtbare Zeichen der wirklichen, realen Gegenwart Gottes in dieser unserer konkreten und realen Welt. Das Innerste des Christentums ist nicht eine weltabgewandte Vergeistigung. Das Innerste des Christentums ist eine unendliche Beseligung der ganzen realen Welt und des ganzen lebendigen Menschen.
 
Das ist das Geheimnis unseres Glaubens – der weltzugewandte Gott. Jemand hat einmal gesagt: "Man kann sich Gott gar nicht menschlich genug denken, sonst wäre Er nicht Mensch geworden."
 
In Gott muß eine unendliche Liebe zum menschlichen Leben, zur irdischen Wirklichkeit sein – sonst wäre er nicht Mensch geworden.
 
Das ist die Freude des Fronleichnamfestes. Nie hat eine Religion vom Menschen und vom menschlichen Leib so hoch gedacht wie das Christentum. In einem Stück Brot, in einer unscheinbaren materiellen Wirklichkeit feiern wir Gott mitten unter uns und verbinden wir uns ganz fleischlich und real mit ihm.
 
Damit zeigen wir: Wir leben wirklich von ihm. Freude der erlösten Natur.

Harald Fischer