Prof. Fulbert Steffensky:
„Toleranz: Den eigenen Glauben leben und dem fremden sein Recht lassen“
am 18. 05. 2008 in der Karlskirche, Kassel
 
 
1. Die Zeit der Einstimmigkeit
 
Ich bin einem damals rein katholischen Dorf an der Saar geboren. Es gab nur den einen religiösen Entwurf - den katholischen. Die wenigen Protestanten störten die Einstimmigkeit nicht. Man kannte nur sich selber und die eigene religiöse Tradition, und so lebten wir in ungebrochener Selbstverständlichkeit und in gefährlicher Ungestörtheit. Man konnte nicht mehr lernen als sich selber. Insofern war es eine Landschaft ständiger Selbstwiederholung. Leicht konnte man sich selber, die eigene Denkungsart, die eigene Lebensweise und den Weltentwurf für absolut halten, weil wir keinen anderen kannten. Wie kannten den reinigenden Zweifel nicht, der da entsteht, wo man mehr wahrnimmt als sich selber. Wir konnten uns selber nur schwer erkennen, weil wir den Widerstand der Fremden nicht hatten. Man wächst nur, wo einem die Welt als andere und fremde gegenübertritt. Wir hatten unangefochtene Urteile über „die Protestanten“. Dieses Haus, das sich mit keinen anderen Häusern vergleichen musste, barg uns. Wir wussten ohne Irritation, was zu glauben und von der Welt zu halten war. Wir wussten, was zu tun war (wenn wir auch nicht immer taten, was zu tun war). Es gab kein Zögern, wir mussten nicht viel überlegen, denn es war alles überlegt, gesagt und aufgeschrieben. Die Menschen waren geborgen und gefangen in der Einstimmigkeit. Wir konnten uns selber nicht lernen, weil wir zu gut wussten, wer wir waren. Wir waren Teil eines Ganzen, das uns immer schon definiert hatte. Nur langsam und mit Schmerzen haben wir uns als junge Menschen hinausgewunden aus den verhängten Denk- und Lebensweisen. Was ich beschreibe, war nicht nur „katholisch“, es war auch das Dorf, das vom Verkehr abgeschnitten war, in dem man immobil war und in dem es keine Fremden gab. Das Dorf mit seiner nur sich selbst kennenden Absolutheit und die Art des Katholizismus dort spielten sich in die Hände und glichen einander in ihren Lebensweisen. Und darum wird es wohl ähnlich zugegangen sein in rein protestantischen dörflichen Gegenden.
 
Der Geist dieses katholischen Dorfes war autoritär. Aber die Autorität lag draußen, in der unbefragten römische Lehre, im Priester, der sie kundtat, in der Tradition. Diese Instanzen waren wenig verinnerlicht. Autoritäten, die draußen liegen, kann man leichter und skrupelloser bescheißen als die Autoritäten die sich im eigenen Gewissen eingenistet haben. Dies gilt zumindest für die Männer, die Frauen haben in dieser Situation wohl vielmehr gelitten. In vielem wäre ein protestantischem Dorf dem katholischen ähnlich gewesen. Die Autoritäten allerdings hätte man anders ins eigene Gewissen genommen, darum war ihnen schwerer zu entkommen. So vermute ich, dass das Leiden in einem evangelischen Dorf keineswegs geringer war.
 


2. Der Verlust der eigenen Stimme
 
Über die Gefahr in meinem alten Dorf kann man sich schnell einigen: Wir kannten uns nicht, weil wir nur uns kannten. Wir konnten nichts voneinander lernen, weil wir unfähig waren, auf unsere eigene Absolutheit zu verzichten. Es gibt eine neue Gefahr: man kann nichts voneinander lernen, weil man sich selber nicht kennt. Ich erinnere mich an den Studenten, der zu spät ins theologische Seminar kam mit der Entschuldigung, er sei noch bei seinem Meister in der indianischen Schwitzhütte gewesen. Er kündigte zugleich seinen raschen Abgang an, weil er noch zu einem Sufiseminar müsse. Nichts gegen den indianischen Meister und schon gar nichts gegen die Sufis! Aber alles gegen eine Flanierattitude, flüchtiger Gast hier und dort zu sein und dabei die eigene Herkunft kaum zu kennen. Lernen kann man nur am anderen und von anderen, wenn man eine Herkunft hat und diese am Fremden und an seinem Widerstand misst. Erst dann kann uns das fremde Andere zur geläuterten Eigentümlichkeit verhelfen. Das etwa ist mein Problem mit dem Hamburger Modell eines „Religionsunterricht für alle“. Kinder sollen miteinander reden, ehe sie eine Stimme haben. Nicht selten wird religiöser Dialog so zu einem Geplapper von Stimmlosen. Ich kann einen anderen in seiner Eigenart und in seiner Begabung erst erkennen, wenn ich ihn von einem Standpunkt aus ansehe. Erkennen ist etwas anderes als zur Kenntnis nehmen. Zur Kenntnis kann ich dies und das und vieles nehmen. Ich platziere das verschieden nebeneinander, und ich arbeite mich nicht an ihm ab. D.h. ich halte keine Zwiesprache mit ihm (Das Wort Dialog benutze ich vorläufig nicht mehr.), ich streite mich nicht mit ihm und ich lerne nicht, das Fremde zu lieben und zu achten. Ich werde nicht Subjekt am Fremden, sondern ich erschöpfe mich in der Addition der religiösen Phänomene. Ich lerne keine Optionen.
 
Was wünsche ich mir also für die Begegnung der Konfessionen? Ein Wunsch: sie sollen getrennt, deutlich und als solche erkennbar bleiben. Ich halte nichts von einer Vereinigung der Kirchen. Wenn wir die Wahnvorstellung überwunden haben, wir seien substantiell getrennt und dürften nicht miteinander das Brot nehmen, dann wünsche ich mir, der Dialekt einer jeden soll kenntlich sein. Es gibt das Christentum in großen historischen Dialekten, und diese Verschiedenheit ist seine Stärke. Es sind Charismen, die sich herausgebildet haben, und indem sich diese Charismen aneinander stoßen, lernen wir. Ich wünsche mir also die Kargheit der Reformierten und die Fülle des Katholizismus, um zwei entfernte Pole zu nennen. Ich weiß auch, dass ein Charisma Stärke und Komik zugleich ist. Deshalb sind sie ja aufeinander angewiesen. Die Kargheit der Reformierten behütet die wundervolle und lebensrettende Überlieferung des Bilderverbots. Der Reichtum der Katholiken ehrt die Geste und die Leibhaftigkeit von Religion. Wie komisch wäre die reine Kargheit, und wie gefährlich ist die reine Bilderfülle. Die Gefahr des Letzteren kennen wir spätestens seit dem Tod des alten und der Inauguration des neuen Papstes. Der Streit zwischen den beiden rettet die Wahrheit. Aber es ist der Streit der Geschwister, die miteinander ein Fundament haben und miteinander das Brot teilen. Eine gewisse Angleichung wird sich natürlich ergeben, wenn die Konfessionen sich nicht mehr als feindliche Geschwister betrachten. Vielleicht wird der protestantische Talar etwas bunter, und vielleicht werden die violetten Söckchen der Kardinäle etwas weniger wichtig.
 
 
 
3. Die fremden Geschwister
 
 Lassen Sie mich einige Sätze sagen zum Verhältnis des Christentums zu anderen Glaubensentwürfen! Die Grundgefahr religiöser Systeme ist, dass sie sich selber nicht endlich denken können. Sie sind immer in der Gefahr, sich selber Gottesprädikate zuzulegen: sie sind die allein seligmachenden, außerhalb von ihnen gibt es kein Heil, sie sind die Wahren, und außerhalb von ihnen ist nur Lüge und Abfall. Ihre Gefahr ist, die Welt zu säubern von den Andersheiten. Der Zwang zur Einstimmigkeit lässt sie nur schwer Fremdheiten denken und dulden. Der Verlust der Endlichkeit ist der Verlust der Geschwisterlichkeit. Nur endliche Wesen sind geschwisterliche Wesen. Sich für einzigartig zu halten, heißt immer, bereit sein zum Eliminieren. Die Anerkennung von Pluralität ist die Grundbedingung menschlicher Existenz, so ungefähr hat es Hannah Arendt formuliert. Ich wünsche mir eine Kirche und religiöse Gruppen von radikaler Deutlichkeit, die ihre eigenen Traditionen, Geschichten und Lieder kennen und nicht verschweigen. Ich  wünsche mir einen Glauben, der Gott unendlich sein lässt und der auf seine eigene Unendlichkeit verzichtet. Erst er ist fähig zum Zwiegespräch. Selbstverständlich ist eine solche Kirche eine Missionskirche. Mission heißt, zeigen wer man ist und was man liebt. Gesicht zeigen, heißt Gesicht gewinnen.
 
Ich wünsche uns den Mut zur Endlichkeit. Ich wünsche uns die Gnade der Endlichkeit. Sie erleichtert uns das Leben. Wir als Einzelne, wir als religiöse Gruppe, wir als Nation sind nicht die Garanten der Welt. Wir sind nicht der Grund des Lebens, das ist Gott, in ihm sind das Leben und die Wahrheit begründet. So können wir Fragment sein, auch als religiöse Gruppe. Welche Lebensleichtigkeit, dass wir nicht alles sein müssen. In uns muss nicht die ganze Wahrheit zu finden sein. An unserem Wesen muss die Welt nicht genesen. Ein Nazi-Satz hieß: Am Deutschen Wesen soll die Welt genesen. Welche Aggression mit solchen Sätzen verbunden war, haben wir in Erinnerung. Wir können uns als religiöse Gruppe die Freiheit nehmen, nicht absolut zu sein. Damit sind wir von der Last der Einzigartigkeit befreit. Und das ist dann zugleich der Lebensraum für andere; für andere Wahrheiten, andere Lebensentwürfe, andere Hoffnungen. Ich bin einer unter vielen, mein Glaube ist einer unter vielen, mein Land ist eines unter vielen. Das drückt nicht meinen Mangel und meine Geringfügigkeit aus. Alle Lebensdialekte stammen von der einen Grundsprache des Lebens. So gilt beides: Der andere Glaube ist anders als meiner, und ich kann ihm seine Andersheit lassen. Er ist mir gleich, denn wir haben den gleichen Ursprung des Lebens. Andere Lebensentwürfe, andere Hautfarben, andere Religionen brauchen also nicht auf dem Altar meiner Einzigartigkeit geopfert zu werden. Die Menschen im anderen Glauben sind meine Geschwister - Menschen wie ich und Menschen anders als ich.
 
Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit als Freiheitsbewusstsein, die Gelassenheit und die Gewaltlosigkeit dem anderen Leben gegenüber stammen aus der Gewissheit, dass man selber nicht nichts ist. Die Güte hat uns ins Leben gerufen und uns unsere Wahrheit geschenkt. Ich vermute, dass Toleranz nur da gelingt, wo man sich seiner selbst halbwegs gewiss ist. Man muss wissen, woher man kommt und wer man ist; man muss die eigenen Geschichten und die eigenen Lieder kennen. Es  gibt eine hinfällige Toleranz, die aus resignativer Selbstschwäche entsteht; die aus dem Bewusstsein entsteht, es rentiere sich nicht, gegen etwas zu sein, weil man sich selbst verschwommen ist und weil man verzweifelt ist an der Erkennbarkeit der Wahrheit. Eine auf andere wirklich bezogene, eine dialogische und starke Toleranz setzt Lebensgewissheit voraus; setzt also voraus, dass man sich selber kenntlich ist. Zur dialogische Toleranz  gehören Partner, die voneinander verschieden sind, die Eigentümlichkeiten haben und deren Grenzen erkennbar sind. Der symbiotische Wunsch, alle Grenzen niederzureißen unter Verleugnung aller Unterschiede zerstört die Dialogfähigkeit. Man muss jemand sein, um sich zu jemandem Verhalten zu können. Auch das freundlichste Un-Wesen ist in der Gefahr, ein Unwesen für die anderen zu werden.
 
Wir sind nicht alles, wir sind endlich als Christen, als Jüdinnen, als Muslime und als Buddhistinnen. Wir sind nicht alles, aber wir sind lebendiger Teil von allem, und wir sind wahrheitsfähig. Aus dieser Gewissheit müsste man eines können: streiten! Ökumene heißt nicht die geglückte Selbstliquidation in ein Allgemeines. Wir sollen nicht in ein blasses Allgemeines von Gesinnung, Lebensauffassung und Expression  verschwimmen. Der Dialog soll jedem zu seiner geläuterten Eigentümlichkeit verhelfen. Ökumene heißt nicht nur, dass ich geduldet bin mit meiner Wahrheit, sonder dass ich nicht im Stich gelassen werde von der Wahrheit der anderen. Ich bin Fragment, ich weiß etwas, aber ich weiß nicht alles. So brauche ich die Korrektur und die Ergänzung durch die Wahrheit der anderen. Dialogische Ökumene, wenn sie nicht verzweifelt und wahrheitsdefätistisch ist, sucht den anderen auf, sie lernt und lehrt. Die Wahrheit entsteht und kommt voran im Gespräch der Geschwister. Sich selber sowohl für wahrheitsfähig als auch  für irrtumsfähig zu halten; die anderen sowohl für wahrheitsfähig als auch für irrtumsfähig zu halten, das ist eine Eigenart dialogischer Ökumene. Wo man ins Gespräch kommt, da stoßen Wahrheiten und Irrtümer aufeinander, da gibt es Auseinandersetzungen, da gibt es Streit. Der Streit ist ein Mittel, die Wahrheit zu ermitteln, aber nur unter der Bedingung, dass Menschen ihn austragen, die strikt auf Gewalt verzichten. Wir leiden nicht nur an Intoleranz, wir leiden auch an Harmoniediktaten und an Einigkeitssüchten, die die Wahrheit vernachlässigen. Der Streit verträgt das Licht der Öffentlichkeit, wo auf Gewalt verzichtet wird und wo nicht Schmähung, sondern Verständigung Ziel sind.
 
Zur Toleranz gehört, die fremden Geschwister sichtbar sein zu lassen. In einer westdeutschen Großstadt mit einem hohen Anteil an Muslimen hat es einen lange andauernden Konflikt um den Bau einer Moschee mit einem Minarett gegeben, von dem aus der Muezzin die Gebetszeiten ausrufen konnte. Der Widerstand dagegen war groß. Wir sind in Deutschland, sagten die Leute. Wir sind ein Land mit einer christlichen Tradition. Wenn schon eine Moschee, dann soll sie kleine und bescheiden sein. Die Fremdheit soll nicht sichtbar sein. Die Fremdheit des Hauses und seiner Bräuche irritierte, weil sie die Einheitlichkeit störte. Ertragen konnte man nur sich selbst, nicht die anderen. Die sollten sein wie wir, oder nicht sein, zumindest nicht sichtbar und hörbar sein. Was aber geschieht mit einer Gesellschaft, die Störungen nicht verträgt und die darum Andersheiten unsichtbar machen muss? Sie wird dumpf. Ungestörte und einstimmige Heimaten bergen nicht, sie verdummen. Wer nur sich selber kennt, verholzt in seiner Eigenheit.
 
Mit Humor können wir zurückschauen auf unsere eigene Geschichte. In dem katholischen Köln durfte lange keine evangelische Kirche gebaut werden. Aber es gab die andere Seite des Rheins mit der „Deutzer Freiheit“, da durfte Kirche stehen. Im lutherischen Hamburg durfte zunächst keine katholische und keine reformierte Kirche gebaut werden. Aber am Rande der Stadt gab es die „Große Freiheit“, da konnten die Kirchen stehen. Im Lutherischen Lübeck war die reformierte Kirche zwar nicht verboten, aber sie durfte nicht als solche sichtbar sein, und so sieht sie noch heute aus wie ein gewöhnliches Bürgerhaus. Anderen die Sichtbarkeit verbieten, heißt ihnen die Lebenskraft verbieten. Wir erinnern uns heute lächelnd an jene Zeit, in der Christen anderen Christen das „Ansehen“, die Sichtbarkeit verboten haben. Zum Glück sind wir weiter. Und wir hoffen auf eine Zeit, in der wir unseren eigenen Glauben und seine Schönheit kennen und in der wir die geistige Kraft haben, den Glauben der anderen zu ertragen.
 
 
 
4. Toleranz: Die Duldung der fremden Gäste
 
Lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen! Vor einiger Zeit musste ich einen Mann beerdigen, der in einem sehr unkirchlichen Kontext lebte. Alle waren erstaunt darüber, sogar seine Familie, dass dieser Mann noch in der Kirche war. Er war katholisch. Da ich wusste, dass fast niemand von den Trauergästen in der Kirche war, leitete ich die Feier so ein: „Ein Mensch, den Sie verehrt und geliebt haben, ist gestorben. Wir wünschen ihm in diesem Gottesdienst das, wofür wir selber nicht stehen können: dass ihr Leben und ihr Tod aufgehoben sind im Schoße Gottes. Wir tun es in der alten Sprache, die für wenige von Ihnen Muttersprache ist, den meisten ist sie fremd. Einige erinnern sich noch und sind halb in ihr beheimatet. Es ist die Sprache, die gewaschen ist mit den Tränen und den Wünschen der Toten, die sie vor uns gesprochen haben. Der Tote hatte sich nie ganz verabschiedet von dieser Sprache. Ich lade Sie ein, für eine Stunde Gast in dieser Sprache zu sein, auch wenn sie ihnen fremd ist. Legen Sie für den Toten die Masken der Hoffnung an und singen Sie - vielleicht mit fremder Stimme - die Lieder, sprechen Sie den Psalm und beten Sie das Vaterunser! Lassen Sie uns nicht auf unserer kärglichen Stummheit bestehen, sondern ausgreifen bis in das Land des Glücks, in dem die Wunden geheilt und die Toten geborgen sind! Spielen Sie für eine Stunde diesen Glauben, auch wenn ihr Herz nicht mitkommt!“
 
Am Ende sagte mir ein nachdenklicher Teilnehmer: „Ich habe meine Glaubensmaske wieder abgelegt. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie sie mir für eine Stunde geliehen haben.“ Auch das ist Mission - die Masken des Glaubens und der Hoffnung auf Zeit zu verleihen.
 
Manchmal borgen sich Menschen für einen Tag oder oder vielleicht für eine Stunde unsere Sprache aus. Wir sind nicht die Meister ihres Glaubens, und wir haben diesen Glauben auf Zeit zu ehren und ihm zu dienen. Eine der Aufgabe der Kirche ist es, mit ihrer Sprache, mit ihren Gesten, mit ihren Räumen und Zeiten zur Verfügung zu stehen, wenn Menschen uns brauchen. Zum Beginn  des Golfkrieges oder am 11. September 2001 oder bei der großen Flut in Asien waren die Kirchen in Hamburg voll. Menschen sind auf Zeit Gast in einem Haus, das ihnen nicht gehört und in dem sie nicht zuhause sind. Sie leihen sich Sprache, Räume, Zeiten und Gesten für die Not oder das Glück ihres Herzens. Sie brauchen das Haus, aber sie wollen dort nicht zuhause sein. Sie wollen, dass wir uns nicht verleugnen. Sie wollen nicht, dass wir die Sprache und die Gesten zu Tode erklären. Sie wollen in ein fremdes Haus gehen. Vielleicht ist diese Sprache überhaupt nur in ihrer Fremdheit für sie zu sprechen und zu ertragen. Sie wollen nicht, dass es ihre Sprache ist und dass sie ihnen auf den Leib zugeschnitten ist. Die Fremdheit lässt ihnen Distanz und Ambivalenz. Sie sind in einem Haus, und es schützt sie auf Zeit, aber sie sind nicht zuhause und sie wollen dort nicht zuhause sein. Sie spielen die Clowns der Hoffnung in einer fremden Sprache. Man kann Fremdes manchmal besser verstehen und annehmen als immer schon Verstandenes und immer schon Gewusstes. Es ist schon erstaunlich, was Menschen heute alles annehmen, obwohl es nie in ihrer Tradition gelegen hat. Soll man vielleicht sagen, weil es nie zu ihrem Traditionsbestand gehörte?  Wir sind nicht die Meister des Glaubens dieser Menschen, aber wir können - mit Paulus gesprochen - Diener in ihrer Freude und in ihrem Unglück sein. Mission heißt, Gastfreundschaft üben und nicht neidisch darüber sein, dass die Menschen nicht für immer bleiben und Vollmitglieder sind. Es gibt andere Wege des Geistes als unsere eigenen. 
 
Wir Alten haben es wohl mit einem neuen Selbstverständnis zu tun, an das wir uns erst gewöhnen müssen. Menschen in meiner Jugend waren Nesthocker. Sie blieben, in der Religion, die sie ererbt hatte; in den Ehen, die sie geschlossen haben; am Ort, an dem sie geboren waren; in der Schicht ihrer Eltern; in dem Beruf, den sie einmal erlernt hatten. Wir sind selber Zugvögel geworden und haben es mit Zugvögeln zu tun. Die Signatur dieser Existenz ist Zeitweiligkeit, Wechsel, Doppelexistenzen. Zeitweilig: Man glaubt auf Zeit, hat seinen Beruf auf Zeit, hat vielleicht sogar seine Ehe auf Zeit (wie Frau Pauly vorschlägt). In Meiner Jugend hatte man alles lebenslänglich. Doppelexistenz: Ich kenne den Theologiestudenten, der aus der indianischen Schwitzhütte kommt, das theologische Seminar besucht, auf seinen Luther schwört, die Fronleichnamsprozession besucht und am Abend noch ein Seminar über die Mystik der Sufis besucht. Es ist erstaunlich, welche biographischen und religiösen Karrieren schon junge Menschen haben. Alles hat seinen Preis, die Nesthockerexistenz und die Zugvogelexistent. Wir können uns die Menschen, mit denen wir umgehen, nicht aussuchen. Sie sind, wie sie sind. Wenn man mit Menschen, vor allem auch mit sich selber umgeht, braucht man viel Humor und wenig Zwang.
 
Was aber wird aus uns Christen, wenn wir das Geheimnis in die Öffentlichkeit tragen? Bleiben wir noch deutlich, oder verlieren wir Kontur - vor uns selber und vor den anderen, wenn wir die Sprache aus dem Arcanum nehmen und in die Fremde tragen? Ich vermute, je deutlicher wir selber sind als Christen, als Pfarrerinnen, als Lehrerinnen, als Kirchenvorsteher, um so eher können wir undeutliche Gäste ertragen. Je mehr wir unsere Traditionen nicht nur kennen, sondern sie lieben gelernt haben als Geschichten der Freiheit und der Schönheit; je mehr wir sie uns angeeignet haben und wir spirituelle Menschen sind, um so mehr können  wir furchtlos verteilen, was wir haben, und zeigen, wer wir sind. Je unsicherer wir sind, umso stärker üben wir uns in der Kunst der Selbstverbergung. 
 
Ich spreche immer wieder von der Deutlichkeit und Kenntlichkeit der Kirche. Ich möchte der Deutlichkeit ein anderes Wort hinzufügen: Keuschheit. Es gibt eine Entwertung des Öffentlichen Raums, eine konzentrierte Form organisierter Umweltkriminalität und eine Sichtverschmutzung durch Reklame. Wenn ich durch eine Stadt gehe, kann ich nicht frei Entscheiden, ob ich diesen oder jenen Schwachsinn propagierter Produkte ansehen will. Ich bin gezwungen zu sehen, mein Blick ist gefangen. Diese Art von Öffentlichkeit wünsche ich der Botschaft des Evangeliums nicht. Das Evangelium soll nicht an die Blickindustrie verkauft werden. Es ist zu schade dazu. Wenn man etwas liebt, zeigt man es, das ist wahr. Aber man verbirgt auch das Herz und trägt es nicht vor jedermann auf der Zunge. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Ich freue mich, wenn ich einem Auto begegne, das einen Fischaufkleber hat. Es ist eine Art Wiedererkennen eines Menschen, den ich nie gesehen habe, der aber die selbe Hoffnung hat. Das Zeichen ist diskret. Es offenbart und verhüllt zugleich. Weniger lieb ist es mir, wenn es mir von jedem Heckfenster entgegen schreit: „Jesus liebt dich!“ Oder: „Hast du heute schon gebetet?“ Christus zu bezeugen, hat nichts mit geistlicher Schamlosigkeit zu tun. Alles und jederzeit zu veröffentlichen, ist eine Zerstörung der Öffentlichkeit.
 
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Wir sind von der Last der Einzigartigkeit befreit. Wer an Gott glaubt, braucht nicht selber Gott zu spielen. Er muss nicht alles sein, er kann begrenzt und fehlbar sein. Das gilt auch für die Kirchen. Keine der Einzelkirchen muss die Last tragen, die einzige zu sein. Aber darum ist auch keine der Kirchen genug. In keiner Kirche ist man ganz zuhause. Alle sind als Einzelkirchen zu eng, zu bescheiden un d zu wenig, jedenfalls wenn man große Wünsche an die Kirche hat. Am engsten und am unerträglichsten sind die Kirchen dort, wo sie glauben, das einzige „Haus voll Glorie“ zu sein und der anderen nicht zu bedürfen. Den Menschen ehrt seine Bedürftigkeit und Angewiesenheit. Es ist eine Erleichterung und eine große Lebensschönheit, bedürftig zu sein. Die Tatsache, dass meine Einzelkirche nicht alles ist und daß ich in meiner Kirche darum nicht ganz zuhause bin, verweist auf die anderen Kirchen. Der Mangel im Eigenen macht bedürftig, und so macht er geschwisterlich. Nur bedürftige Menschen sind geschwisterliche Menschen, und den Autarken ist nicht zu trauen. Das gilt für Menschen, und das gilt für Systeme. Die Vorläufigkeit und die Begrenztheit der eigenen Kirche machen einen zum Spieler. Man braucht nicht nur der stumpfe, sich selbst genügende Katholik, Orthodoxe, Lutheraner oder Reformierte zu sein. Es gibt eine Lust zwischen den Zeilen zu leben, zwischen den Häusern und zwischen den Welten. Es ist die Lust, in mehr Häusern beheimatet zu sein als nur in einem. Es ist die Unbescheidenheit, mehr Welten zu wollen als nur die eigene bescheidene Lebenswelt. Heimat verdummt, wenn man nur eine kennt. er mehr als ein Haus kennt, ist nicht mehr eingekerkert in ihm. Wer mehr als eine Kirche kennen gelernt hat, lernt seine eigene zu lieben und sie zugleich als begrenzt zu empfinden. Er lernt Humor und die wundervolle und lebensrettende Gabe der Skepsis seiner eigenen Heimat gegenüber. Die Wahrheit kann nicht eingefangen werden in einer Kirche, nicht einmal in allen zusammen. Religiöse Gruppen werden erst dann erträglich und für andere ungefährlich, wenn sie dies wissen und wenn sie ihre eigene Endlichkeit schätzen und annehmen. 
 
Prof. Fulbert Steffensky